Durch die Medien kreisen seit einiger Zeit die sogenannten Abgehängten. Eine ominöse Gruppe von unzufriedenen Leuten, die sich von der Gesellschaft angeblich nicht akzeptiert fühlt. Wir haben uns auf die Suche nach den tatsächlichen Abgehängten gemacht – und sie nach ihrer Meinung zur politischen Situation in Deutschland gefragt. Gefunden haben wir unter anderem Kerstin. Sie hat eine Posttraumatische Belastungsstörung und uns erzählt, warum sie sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt und wie sie der Kampf mit den Behörden zermürbt.
Kerstin ist 26, hat eine psychische Erkrakung und schon in so vielen verschiedenen Jugendeinrichtungen gewohnt, dass sie sie kaum noch zählen kann. Auch der Einstieg in den Job ist für sie schwieriger als für andere. Kerstin will zeigen, wie das eigentlich ist, wenn du jung bist, große Probleme hast und von einer Behörde zur nächsten geschoben wirst. Sie wünscht sich, dass in Deutschland mehr für Kinder aus schwierigen Familien getan wird. Kinder wie sie früher eines war.
Hintergrund zur Recherche
1. Warum gerade dieses Thema?
Als wir nach Themenvorschlägen für unsere Recherche „Was ist eigentlich los mit dir, Deutschland?“ gefragt haben, schrieb uns User Sven Folgendes:
Laut Politik müsse man sich „integrieren“ (nach Definition der Politik was das denn angeblich sei). Dazu braucht es in der heutigen Zeit üppige Geldmittel, die die meisten Leute, die angeblich „nicht integriert“ sind (auch sehr viele Deutsche), gar nicht aufbringen können.
Auf einen Zusammenhang stieß die britische Soziologin Marii Peskow in der European Social Survey (ESS): Demnach sei die Bereitschaft zur Wohltätigkeit in egalitären Gesellschaften deutlich schwächer ausgeprägt, als in solchen mit großen Einkommensunterschieden. Die Erklärung dafür liege im sozialen Statusgewinn, den Wohlhabende in ungleichen Gesellschaften erfahren würden, wenn sie Schwächere unterstützten. In egalitären Gesellschaften herrsche hingegen das Bewusstsein vor, dass dank des Sozialstaats für die Schwachen schon gesorgt sei.
Faulheit gilt in den westlichen Industrienationen als Todsünde. Wer nicht täglich flott und adrett zur Arbeit fährt, wer unbezahlte Überstunden verweigert, lieber nachdenkt als malocht oder es gar wagt, mitten in der Woche auch mal bis mittags nichtstuend herumzuliegen, läuft Gefahr, des Schmarotzertums und parasitären Lebens bezichtigt zu werden.
Sven findet also: Für die Schwächsten in der Gesellschaft ist eben nicht ausreichend gesorgt. Der Ansicht waren noch mehr von euch. Daher machten wir uns auf die Suche nach sozial Benachteiligten. Wir suchten Menschen, die keine Lobby haben und deren Stimmen nicht so stark wahrgenommen werden, wie die von anderen Interessengruppen, weil sie aus psychischen oder physischen Gründen nicht so leistungsstark sind. Wir haben also einen Aufruf gestartet und nach Leuten gesucht, die sich abgehängt fühlen.
Kerstin hat diesen Aufruf gesehen und sich bei uns gemeldet. Wir haben nicht nur mit ihr gedreht, sondern auch mit der ehemaligen Krebspatientin Sarah. Sarahs Geschichte seht ihr in Folge 5!
2. Welche Schwierigkeiten traten bei der Recherche auf?
Kerstin macht eine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk und wohnt in einer Intensivgruppe für Jugendliche. Es war relativ schwierig, Drehgenehmigungen für diese Orte zu erhalten, denn natürlich wollen Kerstins Betreuer die Auszubildenen und Wohngruppenbewohner schützen. Wir haben sie in vielen langen Gesprächen davon überzeugen können, dass wir behutsam auftreten und unvoreigenommen über Kerstins Leben berichten wollen. Und auch, dass wir den Ablauf in der WG mit dem Dreh nicht stören werden. Von Vorteil war dabei, dass wir vor drei Jahren in einer Psychiatrie einen Film zum Thema Borderline gedreht haben. Von Vorteil war auch, dass Kerstin unbedingt mit uns sprechen wollte, sie möchte anderen zeigen, dass es sich lohnt, zu kämpfen und gleichzeitig aufzeigen, an welchen Stellen jungen Leuten mit psychischen Problemen besser geholfen werden sollte. So konnten wir schließlich das Berufsbildungswerk und die Leitung der Wohngruppe davon überzeugen, dass wir dort drehen durften.
3. Was haben wir gelernt?
Die Abgehängten gibt es wirklich. Gerade wer aus irgendwelchen Gründen aus dem Arbeitsmarkt fliegt oder gar nicht dort hinein kommt, hat es in unserer Gesellschaft sehr schwer. In Kerstins Fall – und auch bei vielen anderen Menschen mit psychischen Erkrankungen – haben ihre Probleme auch viel mit der eigenen Kindheit zu tun. Sie ist schon ein kleines Mädchen aus dem System geflogen und kämpft sich jetzt mühsam zurück in die Gesellschaft. Sie – und ebenso ihr Wohngruppenleiter Herr Heller – sagen, dass Kerstins Leben wahrscheinlich ganz anders verlaufen wäre, wenn jemand rechtzeitig erkannt hätte, was bei diesem Kind schief lief und welche Therapie sie braucht. Stattdessen wurde sie durch etliche Einrichtungen geschleust, ohne dass ihr wirklich geholfen wurde. Erst jetzt, mit 26 und unter einem enormen persönlichen Aufwand, ist sie an einem Ort gelandet, an dem sie die Hilfe bekommt, die sie braucht.
Menschen wie Kerstin haben sehr wenig Einfluss. Kürzlich hat die Bundesregierung den aktuellen Armutsbericht veröffentlicht. Ein paar heikle Passagen wurden zuvor gestrichen. Darunter diese Aussagen: „Es besteht eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen“ und „Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“ Leute wie Kerstin mit wenig Geld, aber großen Problemen, haben also wenige Chancen, politisch etwas zu bewegen. Deshalb war es uns wichtig, dass sie bei uns ihre Meinung äußern darf.
Wichtig auch: Die Abgehängten sind eine sehr heterogene Gruppe. Darunter gibt sicher ein paar Schreihälse, die laut schimpfen, aber wenig nachdenken. So jemand ist Kerstin nicht. Sie hat differenzierte politische Ansichten, sie benennt klar, was sie gut findet und was sie stört. Nach unseren Erfahrungen bei zum Beispiel PEGIDA, aber auch der Merkel-muss-weg-Demo haben wir fest gestellt, dass dort eigentlich kaum Abgehängte im urprünglichen Sinne zu finden waren. Dort waren eher Menschen, die Sorge davor hatten, abgehängt zu werden, also sozusagen subjektiv potentielle Abgehängte. Die tatsächlichen Abgehängten, die wir getroffen haben, hatten andere, essentiellere Probleme. Ihnen zuzuhören ist wichtig, denn es besteht die Gefahr, dass gerade die Leisen und Differenzierten, die wir in der Debatte so dringend brauchen, bei politischen Prozessen ausgeschlossen werden. Hierzu passt auch unser Thema „Die schweigende Mehrheit.“
4. Was hätten wir besser machen können?
Bestimmt ganz viel. Schreibt uns eure Meinung einfach in die Kommentare oder auf Facebook, Snapchat (Name: Crowdspondent), Twitter, Instagram oder wo auch immer ihr im Netz Zuhause seid. Wir freuen uns über Kritik, Lob und Fragen zur Recherche. Besonders freuen wir uns über Leute, die uns auf Youtube abonnieren.
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