Dieses Land hat sich verändert. Im Herbst 2015 kamen wir von einer mehrmonatigen Recherche aus dem Ausland zurück. Natürlich hatten wir online verfolgt, wie am Münchner Hauptbahnhof Flüchtlinge mit Klatschen und Teddybären begrüßt wurden, wie die AfD stärker wurde und wie die alten Parteien darauf irgendwo zwischen unbeholfen und kämpferisch reagierten. Trotzdem überraschte uns die politische Wut und die Wucht, mit der diese Wut auftrat, als wir zurück in Deutschland waren. Wir fanden ein zerrissenes Land vor, ein Land, in dem der Ton deutlich rauer geworden ist. Freunde erzählten uns, dass sie mit ihrer Familie aus Angst vor Streit nicht mehr über Politik sprechen.
Man kann die AfD belächeln, direkte Demokratie verteufeln, die immer ätzender werdende Diskussionskultur in sozialen Netzwerken ignorieren und es sich im „Uns geht’s doch hier echt gut – Modus“ in seiner eigenen Filterblase bequem machen. Oder man setzt sich ernsthaft damit auseinander, was eigentlich hinter den benannten Phänomenen steckt, wo die in vielen Ecken des Landes spürbare Unzufriedenheit herkommt und was dagegen getan werden kann.
Genau das haben wir versucht.
Wir haben uns gefragt: „Was ist eigentlich los mit dir, Deutschland?“ und seit Herbst 2016 in ganz Deutschland Antworten auf diese Frage gesucht. Dank unserer Crowdfunding-Unterstützer hatten wir für dieses Vorhaben fast 12 000 Euro Rechercheguthaben in vier Wochen eingesammelt.
Auf diese Weise haben wir zuvor schon in Japan und Brasilien recherchiert, Favelas in Rio de Janeiro erkundet und nachgesehen, wie es den Bewohnern von Fukushima geht, die 2011 aus dem Sperrgebiet rund um das Atomkraftwerk evakuiert worden sind. Und wir sind auch schon einmal durch Deutschland gereist, 2014, drei Monate lang. Damals wurde „die Mannschaft“ gerade Fußball-Weltmeister, überall hingen Deutschlandflaggen, es wurden weniger politisch motivierte Gewalttaten verübt und es gab noch nicht solche Massen von Hass-Kommentaren in sozialen Netzwerken.
Was hat sich seitdem verändert? Was muss vor der Bundestagswahl unbedingt noch diskutiert werden? Für die Themensuche haben wir in Facebook-Livekonferenzen und auf der Straße mit Leuten darüber gesprochen, welche politischen Themen sie wichtig finden, was sie von Medien und Politik erwarten und welche Meinungen ihnen in der aktuellen Debatte fehlen – und zwar unabhängig von Tagesaktualität, Klickoptimierung und Zeitdruck. Und ja, auch unabhängig von unseren persönlichen Wohlfühlbereichen. Danach sind wir losgezogen und haben diese Vorschläge nach Möglichkeit umgesetzt.
Wichtig war uns: Politikjournalismus heißt für uns nicht, dass Politiker die Themen setzen, sondern die Wähler das Agenda Setting übernehmen. Und dass nicht wir als Journalisten den anderen unser Weltbild darlegen, sondern dass wir versuchen, zu verstehen, wie sich das Weltbild der anderen konstruiert. Wir wollten auch die mitreden lassen, die sich sonst nicht mehr zu Wort melden, die aus dem öffentlichen Diskurs rausgeflogen sind wie aus einem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Weil die Redundanz sie ermüdet und weil sie keine Lust haben, für ihre Meinung beleidigt zu werden.
Herausgekommen sind zehn Themen, mit denen wir uns genauer beschäftigt haben und für die sich Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Positionen interessieren:
1. Mein Weltbild, dein Weltbild: Wir leben alle im selben Land und trotzdem klafft die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Zustände bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen auseinander. Wie kam es dazu? Wie äußert sich das? Wer denkt was und warum schweigen so viele Menschen zu politischen Themen?
2. Wie geht es Obdachlosen in Deutschland?
3. Die Abgehängten: Welche Leute sind aus dem Arbeitsmarkt geflogen oder kommen gar nicht erst hinein? Wir treffen junge Menschen mit schlechten Chancen.
4. Deutschland, deine Waffen: Wieso exportiert Deutschland so viele Waffen? Wer entscheidet darüber?
5. Was genau hat sich verändert? Vor zwei Jahren gab es keine PEGIDA und die AFD war noch eine professorige Anti-Euro-Partei. Was ist geschehen? Und wie haben sich Menschen und Orte verändert? Wir haben es uns in Dresden angeguckt.
6. Die Flüchtlinge sind da – und nun? Wie funktioniert das Zusammenleben von Flüchtlingen und Alteingesessenen?
7. Direkte Demokratie: Wie kann ein ganz normaler Bürger sich politisch einbringen? Wir begleiten unter anderem eine Bürgerinitiative.
8. Viel wird in Deutschland über den Islam diskutiert, aber wenig über die generelle Beziehung zwischen Staat und Religion. Müssten Politik und Religionen stärker getrennt sein?
9. Jung und politisch engagiert: Warum gehen junge Menschen in die Politik? Was motiviert sie und was würden sie am liebsten ganz anders machen?
10. Utopien gesucht: Ob Kapitalismus abschaffen oder Bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Wir zeigen Menschen mit Visionen.
Alle, denen wir begegnet sind, haben wir gefragt, was aus ihrer Sicht los ist, mit diesem Deutschland, und darauf oft Antworten bekommen, die man nicht bei einer Schreibtischrecherche erfährt.
In den kommenden Wochen werden die Videos zu den zehn Themen hier und auf unserem Blog erscheinen. Wir hätten sicher vieles anders machen können und haben häufig mit unserer journalistischen Rolle gehadert: Welche Themen wählen wir aus? Wie verhalten wir uns adäquat auf einer Merkel-muss-weg-Demo oder bei Pegida? Wie schneiden wir provokante Aussagen fair zusammen? Wie kommt man überhaupt in Kontakt mit den Menschen, die sich aus dem politischen Diskurs zurückgezogen haben – und wie holt man sie wieder zurück?
Uns interessiert, was ihr anders gemacht hättet, worüber ihr euch mit uns streiten würdet, aber auch, was euch daran gefällt und ob es Themen gibt, die euch noch fehlen oder um die wir uns in Zukunft kümmern sollen.
Feedback gerne an info@crowdspondent.de, Facebook, Snapchat (Name: Crowdspondent), Twitter, Instagram oder wo auch immer du im Netz Zuhause bist! Wir freuen uns über Kritik, Lob und Fragen zur Recherche.
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