In Deutschland muss doch wirklich niemand auf der Straße leben! Oder vielleicht doch? Für den dritten Teil unserer Recherche „Was ist eigentlich los mit dir, Deutschland?“ sind wir eine Nacht lang mit dem Berliner Kältebus mitgefahren. Neben diesem Film ist dabei auch ein längerer Text entstanden, in dem wir uns mit der Frage auseinandersetzen, warum es in Deutschland überhaupt immer mehr Obdachlose gibt.
1. Warum gerade dieses Thema?
Wir haben von euch häufiger Fragen und Anregungen zum Thema Obdachlosigkeit bekommen. Hier im Blog berichtete zum Beispiel User Ben:
„Vor einigen Monaten hatte meine (damalige) Friseurin auf Facebook ein Bild geteilt mit der Aussage, man solle doch erstmal die Obdachlosigkeit in Deutschland beseitigen und sich erst dann um Flüchtlinge kümmern. Ich habe – und das war ernst gemeint – angeboten, dass mir diese Friseurin doch bitte eine obdachlose Person vorstellen soll, die es nicht schafft, ein Dach über dem Kopf zu bekommen, um diese dabei zu unterstützen. Mir war direkt klar, dass ich hier keine sinnvolle Antwort erwarten müsse. Nun, die kam auch nicht – und nun habe ich eine neue Friseurin, die ich nicht auf Facebook befreunde, aber aufgrund der Optik (ja, das böse Schubladendenken) auch eher der linken als der rechten Ecke zuordnen würde.“
Dirk fragte sich ebenfalls in den Kommentaren, ob es einen Konkurrenzkampf zwischen Obdachlosen und Flüchtlingen gibt.
Und als wir für unser erstes Video auf der Merkel-muss-weg-Demo in Berlin waren, berichtete Demonstrantin Gregoria davon, dass der Berliner Kältebus zu wenige Schlafplätze für Obdachlose zur Verfügung hätte und deshalb Obdachlose auf der Straße erfrieren würden.
Außerdem haben wir unterwegs öfter mal den Satz gehört: „In Deutschland geht es uns sehr gut. Auf der Straße leben muss doch hier wirklich niemand!“
Wir nahmen diese Anregungen zum Anlass, einfach mal eine Nacht lang mit dem Kältebus mitzufahren. Wir wollten wissen: Warum landen Menschen auf der Straße? Wie beurteilen Sie die Hilfen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden? Was könnte besser laufen?
2. Welche Schwierigkeiten traten bei der Recherche auf?
Es war einfacher als gedacht, beim Kältebus mitfahren zu dürfen. Wir haben verschiedene Kältebusse in Deutschland angefragt und wir hätten bei mehreren mitkommen können. Die Obdachlosenhilfen freuten sich über die Aufmerksamkeit, was sicherlich auch daran liegt, dass sie zumindest teilweise über Spenden finanziert werden und dementsprechend auf Aufmerksamkeit für ihre Arbeit angewiesen sind. Da die Merkel-muss-weg-Demonstrantin sich explizit über die Situation der Berliner Obdachlosen beschwert hat, haben wir uns gefreut, dass es dort geklappt hat.
Schwieriger war es dann natürlich, vor der Kamera mit den Mitfahrenden zu sprechen. Zwei Menschen, die der Kältebus in eine Notunterkunft fuhr, kamen direkt aus dem Krankenhaus. Sie waren in so einem schlechten körperlichen Zustand, dass wir sie aus Respekt nicht gefilmt haben. Der erste war ein älterer Herr mit russischem Akzent, der eine Beinverletzung hatte und kurz nach der Abfahrt in den Kältebus pinkelte. Für die beiden Kältesbusfahrer Yannick und Leah war das nicht besonders außergewöhnlich, sie reinigten den Bus und dann ging es weiter. Das zweite war eine Frau um die 50, die uns erzählte, dass sie seit einer Woche nichts gegessen hätte. Yannick meinte dazu, dass es zwar in Berlin reichlich Essensangebote für Obdachlose gibt, dass aber nicht alle Leute (körperlich oder geistig) dazu in der Lage seien, diese Angebote auch anzunehmen. Was uns erschreckt hat, war, dass die Krankenhäuser beide mitten in der Nacht so schnell wie möglich loswerden wollten – also eine Nacht im Krankenhaus ist für Obdachlose mit leichten bis mittelschweren Verletzungen offensichtlich nicht drin.
Die meisten Leute reagierten wider Erwarten sehr positiv auf uns, eigentlich alle haben sich freundlich mit uns unterhalten und ein paar dann ja auch vor der Kamera mit uns geredet. Bei dem älteren Henry, der uns von dem Tod seiner Frau erzählte, haben wir uns dazu entschieden, ihn zu verpixeln, da er recht betrunken wirkte.
3. Was haben wir gelernt?
Zunächst mal, dass es gar nicht so einfach zu sagen ist, ob es zu wenige Schlafplätze gibt oder nicht. Denn etwa die Hälfte der Obdachlosen, die wir in dieser Nacht getroffen haben, wollte unter keinen Umständen in einer Notunterkunft übernachten. Außerdem lernten wir, dass im vergangenen Winter in Berlin eine Person erfroren ist. Das ist definitiv eine Person zu viel. Allerdings lässt sich nicht rekonstruieren, ob es daran liegt, dass diese Person keinen Schlafplatz in einer Notübernachtung gefunden hat oder ob es daran liegt, dass diese Person nicht in eine Notübernachtung wollte. Demonstrantin Gregoria hat allerdings recht, wenn sie sagt, dass es zu wenige Schlafplätze gibt, denn wir haben selbst vor Ort mitbekommen, dass der Kältebus Probleme hatte, für jeden einen Platz zu finden. Am Ende der Nacht sind zwar alle untergekommen, aber das war hauptsächlich dem Engagement von Kältebusfahrer Yannick zuzuschreiben. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass der Berliner Senat in den vergangenen Monaten rund 200 neue Übernachtungsplätze für Obdachlose geschaffen hat.
Es geht beim Kältebus übrigens nicht nur darum, den Leuten einen Schlafplatz für eine kalte Winternacht zu besorgen. Yannick ist für viele Obdachlose eine wichtige Vertrauensperson, der sie mit Tee und einem guten Gespräch versorgt. Im Kofferraum des Kältebus hat Yannick auch immer ein paar Schlafsäcke aus der Spendenkammer der Stadtmission dabei, außerdem versucht er, Leute in eine Wohnberatung weiterzuvermitteln. Was wir sonst noch gelernt haben, steht in diesem Text.
4. Was hätten wir besser machen können?
Bestimmt ganz viel. Schreibt uns eure Meinung einfach in die Kommentare oder auf Facebook, Snapchat (Name: Crowdspondent), Twitter, Instagram oder wo auch immer ihr im Netz Zuhause seid. Wir freuen uns über Kritik, Lob und Fragen zur Recherche. Besonders freuen wir uns über Leute, die uns auf Youtube abonnieren.
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