„Es ist mörderanstrengend, jeden Tag Geburtstag zu feiern.“ Über Nacht im Baumhaus

Wir haben Hamburgs Baumwipfel erklommen. Jede Woche übernachten wir in eurem Auftrag an einem ungewöhnlichen Ort. Für den fünften Teil unserer “Schickt uns schlafen”-Kolumne haben in einem Baumhaus gepennt. Und das steht direkt an der Plattenbausiedlung von Hamburg-Wilhelmsburg.

SteffiimBaumhaus

Gerd (Brille, Kappe, weißer Blaumann, Knopf im Ohr) steht auf einer Leiter, installiert eine Deckenleuchte und führt nebenbei ein Telefonat via Headset, als wir ankommen. Wir sind in Hamburg-Wilhelmsburg, denn Leserin Christine hat sich von uns gewünscht, dass wir in einem Baumhaus übernachten. Nur steht das Baumhaus da nicht isoliert. Sondern mitten auf einem Kinderbauernhof.

In der Natur schlafen, hach wie schön. Und ein Bauernhof, das muss ja idyllisch werden. Oder nicht? Der Kinderbauernhof Kirchdorf e.V. (KiBaHo) liegt in einem sozialen Brennpunkt. Baumhaus plus Bauernhof liegen direkt neben einer großen Plattenbausiedlung.

Platte

Der Plattenbau von gegenüber

 

Gerd auf der Leiter, 59, ist hier der Boss. Auf den ersten Blick sieht er fit und zufrieden aus. Erst in der Nacht werden wir erfahren, dass ihn die Arbeit hier in letzter Zeit oft traurig macht. Die Leiter auf der er steht, ist im gelb-blauen Haupthaus. Hühner, Gänse, Kinder und ein Schwein laufen über den Hof. Das Schwein nennt Gerd „Protestschwein“, es sollte eigentlich geschlachtet werden, er hat es gerettet. Mitarbeiter führen Pferde über die Wiese.

Ein Junge hockt auf allen Vieren am Boden und beißt ins Gras. „Du musst jetzt hier kein Gras fressen,“ sagt seine Mutter. „Aber ich bin doch ein Meerschweinchen.“ 50-60 Kinder kommen jeden Tag, um kostenlos Tiere zu streicheln und um wichtige Aufgaben zu erledigen. „Hey, Jana, hast du deinen Auftrag schon ausgeführt?“ ruft Gerd im Befehlston über den Hof. Auf dem KiBaHo gibt es ein Punktesystem: Für jede übernommene Aufgabe gibt es Punkte. Die Kinder können so Pflegschaften für Tiere übernehmen. Ab acht Punkten das Kaninchen. Die meisten wollen aber ein Pony. Dazwischen muss man erst die störrischen Ziegen überstehen. Jana ist noch im Kaninchen-Status. Sie soll die Tiere einsammeln, bevor es dunkel wird.

Gerd spielt mit Papagei Barney.

Gerd spielt mit Papagei Barney.

Währenddessen zeigt Gerd uns unsere Schlafstätte. Er hat das Baumhaus selbst gebaut. „Ich hab einfach ein Gartenhäuschen in die Bäume gesetzt.“ Das blaue Häuschen hat einen Minibalkon mit Geranien, zwei Fenster und ein paar Matten, auf denen wir schlafen werden. Baumhaus deluxe. Kostet aber auch 66 Euro pro Nacht.

Um 19 Uhr sind die meisten Kinder weg. Wir entdecken noch ein paar im Hühnerstall, die ihre Aufgabe „Eier einsammeln“ ernsthaft und bis zur letzten Minute verfolgen. Jetzt sind hier nur noch Gerd und die Tiere. Die meisten der Tiere haben eine schwierige Vergangenheit: Die Katze, die aussieht wie Garfield, hat keinen Schwanz mehr. Die Papageien wohnten vorher in zu kleinen Käfigen und können nicht mal fliegen. „Viele der Tiere sind Scheidungstiere“, sagt Gerd.

Abends wirkt er viel älter als tagsüber. Er nimmt sein Headset ab. Seit 27 Jahren arbeitet er hier. Letzte Woche 93 Stunden. Geld bekommt er dafür nicht, erzählt er uns. Er ist langzeitarbeitslos. 1987 wohnte er noch selbst in Wilhelmsburg, hatte eine sechsköpfige Familie, einen Job als Elektromeister und viele andere Eltern als Mitstreiter, die gemeinsam einen Bauernhof aufbauen wollten, damit ihre Kinder die Natur kennenlernen. Damals bezuschusste die Stadt Hamburg das Projekt.

Und so siehts aus, wenn hier keiner mehr außer uns ist.

Und so siehts aus, wenn hier keiner mehr außer uns ist.

27 Jahre später erhält der KiBaHo keine Fördermittel mehr, Gerd wohnt außerhalb, musste seinen Handwerksbetrieb wegen Verschuldung aufgeben und sieht sich als Einzelkämpfer. Ständig kämpft er darum, dass der Hof erhalten bleiben kann, dafür, dass Kinder hier nach wie vor kostenlos spielen, toben, frei sein können. Seine Mitarbeiter sind 1-Euro-Jobber. Er hat sich damit abgefunden, dass er offiziell nicht arbeitet. Die Kinder und Eltern merken tagsüber nichts von seinen Sorgen. Für die ist er der nette, fleißige „Herr Horn“.

Damit Geld reinkommt, organisiert Gerd hier nebenher Kindergeburtstage: Tiere füttern, Ponyreiten, Heubodenspringen: „Es ist mörderanstrengend, jeden Tag Geburtstag feiern zu müssen.“

LisaimBaumhaus

Desillusioniert gehen wir zum Baumhaus. Wir sitzen noch eine Weile draußen und gucken uns den Supermoon an, der über das benachbarte Naturschutzgebiet und die Plattenbausiedlung strahlt. Gerd selbst ist öfter hier oben. Tagsüber zieht er sich manchmal eine halbe Stunde zurück. Wenn es später wird, übernachtet er auch.

Supermoon

Wir erschlagen ein paar Schnaken, frieren ein bisschen vor uns hin und können irgendwann trotz Windrauschen und wackelndem Boden einschlafen. Morgens um 7 weckt uns ein Esel-„IA“ und dann müssen wir schnell duschen und frühstücken, bevor die Kinderhorde anrückt. Gebucht haben wir unser Baumhaus übrigens über die Inselpension, die auch andere verrückte Übernachtungsorte wie zum Beispiel eine Gartenlaube oder einen Kran (in Planung) zum Schlafen anbietet.

Gerd träumt davon, dass der Bauernhof ohne ihn funktionieren würde. Aber irgendwie haben sich alle daran gewöhnt, dass der KiBaHo läuft. Ohne Fördermittel, ohne Hilfe, der Gerd packt das ja alleine. Als wir uns verabschieden, fragen wir uns, wie lange noch. Gerd sagt: In seinem jetzigen körperlichen Zustand maximal zwei Jahre.

Dieser Text ist Teil einer wöchentlichen Kolumne, die nicht nur auf unserem Blog, sondern in gekürzter Fassung auch auf jetzt.de von der Süddeutschen Zeitung erschien. Unsere aktuellen Recherchen findet ihr hier im Blog oder auf unserem Youtube-Kanal.

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