Lesbos nach dem EU-Türkei-Deal: Wie geht es Griechenland heute? Folge 5

Sie kämpfen um Wasser, um einen Schlafplatz, ums Überleben: Im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos leben mehrere tausend Menschen auf engstem Raum. Immer wieder brechen Krawalle aus und alle fürchten sich vor dem Winter. Was sich seit dem EU-Türkei-Deal verändert hat und wie Flüchtlinge, Flüchtlingshelfer und Politiker die Lage einschätzen, seht ihr in Folge 5 von „Wie geht es Griechenland heute?“

Was soll das?

Dieser Film ist Teil einer crowdfinanzierten Recherchereise durch Griechenland, bei der wir mit Menschen aus verschiedenen Altersklassen, Schichten und Städten gesprochen haben, um zu erfahren, wie es Griechenland heute geht und was die Leute in Griechenland von der Europäischen Union halten.

Alle Themen, die wir behandeln, wurden von unseren Leserinnen und Zuschauern vorgeschlagen. Und die Flüchtlingssituation auf Lesbos hat sehr viele von euch interessiert. UnDing schrieb uns auf Youtube: „Mich würde ein Interview mit Flüchtlingen in Griechenland interessieren. Vor allem die, die aus der Türkei weitergeleitet wurden.“ Auch Raphael hat sich gewünscht, dass wir Leute an der Grenze zur Türkei fragen, was sie über die politische Situation in der Türkei und den Flüchtlingsdeal denken. Und Noemi wollte wissen:

„Wie gehen die Griechen mit Flüchtlingen um? Es geht den Griechen ja anscheinend selbst nicht gut. Mich würde interessieren, was das mit der Hilfsbereitschaft der Griechen macht. Macht es sie offener oder abweisender gegenüber Hilfsbedürftigen? Im restlichen Europa werden Flüchtlinge teils offen aufgenommen, aber auch Fremdenfeindlichkeit nimmt überall zu. Ist das in Griechenland genau so? Fühlen sie sich vom Rest der EU im Stich gelassen, weil sie eine Hauptlast des Flüchtlingsstroms tragen und von anderen Ländern nicht wirklich Hilfe kommt?”

Für die Rolle der EU und der anderen EU-Mitgliedsländer in der Flüchtlingspolitik hat sich auch Ben interessiert:

„Die geographisch glücklichen Grenzen sollen eingehalten werden, während Länder wie Griechenland oder Malta systematisch überfordert werden.”

Während unserer Recherchereise durch Griechenland sind wir deshalb nach Lesbos geflogen, eine Insel im Ägäischen Meer, zirka 30 Kilometer vom türkischen Festland entfernt.

November 2017: Wir fliegen zum ersten Mal nach Lesbos.

Die Recherche war sehr aufwendig, weil das Thema komplex ist und es nicht einfach ist, an Material aus dem Inneren des Flüchtlingscamps zu kommen. Wir fuhren nicht nur zum Flüchtlingslager Moria, verschiedenen Hilfsprojekten und in die Hafenstadt Mytilini, sondern haben uns auch im Vorfeld mit Journalisten aus Griechenland und anderen europäischen Ländern getroffen und unter anderem mit Vertretern von Ärzte ohne Grenzen und dem UNHCR gesprochen, um die Hintergründe des Flüchtlingsdeals besser zu verstehen. Die Recherchereise im November war die erste von insgesamt drei Reisen nach Lesbos.

Warum ist das wichtig?

Die Flüchtlingssituation auf Lesbos ist kein griechisches Problem, sondern geht uns in Deutschland genauso an. Denn dort an der griechischen Grenze zur Türkei kann man sehen, welche Folgen die von Deutschland mitverantwortete EU-Flüchtlingspolitik hat.

Rückblick: 2015 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel „Wir schaffen das“ und setzte das sogenannte Dublin-Verfahren zeitweise aus. Das bedeutete: Flüchtlinge, die zum Beispiel über Griechenland in die EU einreisten, mussten nicht sofort nach Griechenland zurück, sondern durften in Deutschland einen Asylantrag stellten. Hunderttausende kamen nach Deutschland und beantragten Asyl.

In den Jahren zuvor war Merkel nicht gerade Fan einer EU-weiten Flüchtlingspolitik gewesen, jetzt forderte sie plötzlich eine europäische Lösung. Und die bekam sie. Und zwar in Form des EU-Türkei-Deals, einem umstrittenen Flüchtlingsabkommen mit dem türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Merkel gilt innerhalb der EU als größte Befürworterin und treibende Kraft hinter diesem Deal.

Der EU-Türkei-Deal

Ziel des Deals ist, dass weniger Flüchtlinge in die EU kommen und weniger Menschen auf der Flucht über die Ägäis ihr Leben riskieren. 

Die Abmachung zwischen der EU und der Türkei besteht aus diesen drei Punkten:

Rein statistisch betrachtet, funktioniert der Deal sehr gut: Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge auf den griechischen Inseln ist laut UNHCR zurückgegangen:

  • 2015: Ankunft von 857 000 Menschen
  • 2016: Ankunft von 173 000 Menschen
  • 2017: Ankunft von   30 000 Menschen (davon 12 795 auf der Insel Lesbos)

Im vergangenen Jahr sind also ganze 827 000 Flüchtlinge weniger auf den griechischen Inseln angekommen. Doch der Deal hat auch Schattenseiten. Denn die Flüchtlinge müssen bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag in sogenannten Hotspots bleiben.

Das Hotspot-Konzept

Hotspots sind Lager, in denen die Menschen auf das Ergebnis ihres Asylantrags warten. Solch ein Hotspot ist auch Moria. Da die griechischen Behörden mit der Bearbeitung der Anträge überfordert sind, müssen die Leute monatelang in dem dafür nicht ausgerichteten Camp bleiben. Das fühlt sich für viele an wie ein Aufenthalt im Gefängnis, weswegen Moria den Spitznamen „Prison“ trägt.

Moria war ursprünglich ein Transitlager, das heißt, es war darauf ausgelegt, dass etwa 2000 Menschen dort ein paar Tage wohnen. Es ist kein Ort, der 7000 Menschen – so viele lebten bei unserem Besuch im November dort – auf Dauer beherbergen kann.

Die Folgen des Deals

Im Camp Moria nutzen zu viele Menschen dieselben Toiletten und Duschräume und es gibt nicht genügend Schlafcontainer, so dass die Bewohner teilweise auch im Winter in Zelten leben müssen.

Nachts kommt es regelmäßig zu Krawallen.

Im Winter 2016/17 starben außerdem infolge eines plötzlichen Wintereinbruchs im Januar innerhalb eines Monats drei Menschen im Camp Moria.

Laut einer Studie von Ärzte ohne Grenzen über die psychische Gesundheit der Bewohner gibt es zudem immer häufiger Patienten, die Suizidversuche unternehmen, sich selbst verletzen oder psychotische Episoden durchleben.

Einige Flüchtlinge schlafen trotz Kälte auf dem Marktplatz der Stadt Mytilini, weil sie es im Lager nicht mehr aushalten. Sie fordern: #Opentheislands, also „Öffnet die Inselgrenzen.“

 

 

Was die Bewohner von Lesbos über die Situation denken

Inzwischen ist jeder zehnte Einwohner von Lesbos ein Flüchtling. Das hat das Leben der dort lebenden Bewohner verändert.

Lesbos ist eigentlich eine typische Urlaubsinsel mit Buchten, Stränden, Restaurants, Pensionen und Hotels – viele Leute leben vom Tourismus.

Als wegen der vielen Flüchtlinge 2015 und 2016 weniger Touristen gekommen sind und die Kreuzfahrtschiffe andere Inseln in ihre Routen aufgenommen haben, spürten die Bewohner das auch finanziell. Zudem kämpfen die Inselbewohner genau wie alle übrigen Griechen immer noch mit der griechischen Finanzkrise. Mario Andriotis, Berater des Bürgermeisters von Mytilini, sagte uns:

„Es ist natürlich schwierig für die lokale Bevölkerung. Wenn man selbst vor der Haustür Menschen in großer Not hat, weil hier viele Leute auf Lesbos mit ernsthaften wirtschaftlichen Problemen konfrontiert sind, macht es das ganze doppelt schwierig. Wir müssen hier mit zwei Krisen gleichzeitig fertig werden.“

Efi Latsoudi, die Gründerin der alternative Flüchtlingsunterkunft Pikpa für Familien und besonders schutzbedürftige Flüchtlinge wie zum Beispiel psychisch Kranke oder Schwangere, hält die Zustände im Camp Moria für politisch gewollt:

„Die Situation in Moria ist erbärmlich – diese Zustände sollen die Leute einfach nur davon abhalten, überhaupt hierher zu kommen. Das Lager wurde mit EU-Geldern finanziert und die EU kommuniziert gegenüber Griechenland: Wir brauchen diese Bedingungen! Diese Zustände sind Teil unserer Abschreckungspolitik. Und Griechenland ist gezwungen, diese EU-Agenda umzusetzen.“

Flüchtlingshelfer Aris Vlahopoulos vom Warenlager Attika nimmt Griechenland als von der EU im Stich gelassen wahr:

„Zusammen mit Italien und Spanien sind wir vom Norden Europas isoliert. Weil zu uns eben die Flüchtlinge kommen. Aber unsere drei Ländern leider sowieso schon unter der finanziellen Situation. Wo bleibt die Unterstützung der Europäischen Union? Ich sehe überhaupt keine Unterstützung.“

Und jetzt?

Als wir im November 2017 aus Lesbos abreisten, hatten wir keine Ahnung, wie es dort weitergehen würde und ob sich dort überhaupt irgendwann mal etwas an der Situation verbessert. Aus diesem Grund sind wir im Februar ein zweites Mal hingereist und werden im Juni noch einmal die Situation vor Ort betrachten.

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