In der Sperrzone von Fukushima: „Hier wird sauber gemacht.“

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Dekontaminationsarbeiten im verstrahlten Dorf Iitate.

In drei Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi kam es nach dem Erdbeben und dem Tsunami 2011 zur Kernschmelze. Ihr habt uns viele Fragen zu den evakuierten Gebieten von Fukushima geschickt, den Gegenden, die nach der dreifachen Katastrophe komplett geräumt werden mussten. Wir waren für euch vor Ort in dem Dorf Iitate, wo sich die kontaminierte Erde in Müllsäcken stapelt und haben danach in einer provisorischen Containersiedlung mit der ehemaligen Dorfbewohnerin Setsuko gesprochen.

Mit dem Auto fahren wir von Fukushima Stadt aus nach Iitate in die Sperrzone, begleitet von Journalistin Tomomi und Übersetzerin Masami. Fukushima ist nicht nur der Name einer Stadt, Fukushima ist eine Präfektur, also so etwas Ähnliches wie ein Bundesland. In deren Norden, 40 Kilometer vom 2011 havarierten Atomkraftwerk entfernt, liegt litate. Mehr als 5000 Menschen lebten dort früher, sie alle mussten weg. Ein wenig nervös sind wir schon, als wir uns auf der Landkarte das Dorf anschauen, auf das wir nun zufahren. Tomomi fährt regelmäßig hierher, sie arbeitet für die japanische Nachrichtenagentur Kyodo News und versorgt Medien aus ganz Japan mit Informationen aus dieser Region.

Die Fahrt dauert etwa eine Stunde und während wir im Auto sitzen wird draußen die Natur wilder und wilder. Wir wundern uns über die vielen Lastwagen, die uns entgegen kommen. Wir dachten, in dieser Gegend wohne niemand und die Straßen seien dementsprechend leer. „Das ist ganz normal“, sagt Tomomi, „hier wir sauber gemacht.“ Und dann, ohne dass wir den Übergang richtig bemerken, sind wir in Iitate, einem Dorf, das wegen gesundheitsgefährdender radioaktiver Strahlung 2011 geräumt wurde.

Als wir aus dem Auto steigen, sehen wir erst mal die Natur wie sie wuchert. Die weiten Grünflächen, auf denen früher Reis angebaut wurde, wachsen wild und hoch. Schön sieht das aus, im ersten Moment.

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Könnte auf den ersten Blick auch Naturschutzgebiet sein.

Und dann blicken wir auf die andere Straßenseite: Dort transportieren Bauarbeiter mit Atemschutzmasken die oberste Bodenschicht des Dorfs ab, Sack um Sack, Tonne um Tonne. Teil des großen Dekontaminations-Programms.

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Verseuchter Boden in Säcken.

Bis heute ist das Gebiet unbewohnbar, die Rückkehr ist für März 2017 geplant. Die Einwohner wurden vor vier Jahren in einer mitternächtlichen Notfallaktion evakuiert, nachdem die Regierung zuerst der Meinung war, dass Iitate weit genug weg vom Atomkraftwerk Fukushima Daiichi sei und das Gebiet für unbedenklich erklärte. Erst Wochen nach dem Unfall und auf Druck von NGOs, die den ersten veröffentlichten Messdaten nicht trauten, stellte die Regierung fest, dass Iitate sehr wohl gefährlich für seine Einwohner ist. Zu gefährlich, um dort zu leben. Sie mussten schnell raus, zu anderen Familienmitgliedern, dann in Notunterkünfte. Die späte Evakuierung führte dazu, dass die ehemaligen Bewohner von Iitate von allen Menschen aus der Präfektur Fukushima am meisten Strahlenbelastung abbekommen haben.

Seitdem verfällt Iitate. Die Häuser der Menschen sehen zwar von außen ganz normal aus, „innen aber laufen die Ratten herum“, sagt Tomomi. Wir beobachten die Arbeiten der Reinigungskräfte und halten unsere Eindrücke mit der Videokamera fest.

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Filmdreh in Iitate.

Es ist beklemmend, diese Berge von schwarzen Müllsäcken zu sehen, die umgeben sind von äußerlich wunderschöner, aber verseuchter Natur. Hunderte von Menschen arbeiten in dem Dorf daran, dass die Einwohner bald wieder hierhin zurückkehren können. Aber: Wollen die das überhaupt?

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Früher süß, heute gruselig: Ein Häschenschild von Iitate rostet vor sich hin.

litate liegt heute in Sperrzone 2. Auf einer Karte, die uns Tomomi zeigt, ist das Gebiet gelb markiert. Die grünen Gebiete sind offiziell unbedenklich, die roten Gebiete sind so gefährlich, dass man nur mit Genehmigung und Schutzkleidung hindarf. Das gelb markierte Iitate darf man einfach so betreten, man sollte sich dort aber nicht lange aufhalten, was wir natürlich auch nicht tun. Wir haben auch einen Geigerzähler dabei, der uns warnt, falls wir in hochradioaktives Gebiet vordringen und mit dessen Hilfe wir die aktuelle Strahlung mit den zulässigen Höchstwerten für Erwachsene vergleichen können.

Tomomi reist mehrmals im Monat in die evakuierten Gebiete, auch in die roten mit der höchsten Gefahrenstufe. Als wir ihr monatliches Strahlenpensum addieren und mit den medizinischen Grenzwerten vergleichen, wird klar, dass sie sich deutlich häufiger in den gefährlichen Zonen aufhält als empfohlen und die Belastung durch ihre Rechercheaufenthalte die zulässigen Strahlenhöchstwerte für Erwachsene bei Weitem übersteigen. „Hast du keine Angst?“ – „Ich versuche, nicht daran zu denken. Manchmal denke ich kurz daran, dann aber schnell wieder weg. Aber die ehemaligen Bewohner sorgen sich um mich, sie ermahnen mich immer, dass ich nicht zu oft in ihr Dorf soll.“

Journalistin Tomomi nimmt uns mit zu den Dekontaminierungsarbeiten in der Sperrzone.

„Ich versuche, nicht daran zu denken.“ Journalistin Tomomi nimmt uns mit zu den Dekontaminierungsarbeiten in der Sperrzone.

Das Gruselige an einem Besuch in der evakuierten Zone von Fukushima ist, dass man die Gefahr nicht sieht, nicht hört, nicht riecht, nicht schmeckt und man deshalb aus dem Bauch heraus nicht einschätzen kann, wie groß sie ist. Das wird uns noch einmal mehr bewusst, als wir vor Ort auf die Bagger, die Häuser, die Säcke und die wild wachsenden Bäume und Sträucher starren.

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Und das beunruhigt nicht nur uns, das beunruhigt auch die ehemaligen Bewohner. Eine von ihnen ist die 71-jährige Setsuko, die wir nach dem kurzen Aufenthalt in Iitate in ihrem neuen Zuhause besuchen, um ihr eure Fragen zu stellen. So hat uns Leser 5seras gefragt, ob es ein spezielles Siedlungsprogramm für Rückkehrer gibt und David will wissen, ob die Bewohner sich ausreichend informiert fühlen. Wer könnte das besser beantworten als jemand, der selbst betroffen ist?

Setsuko, die ihr ganzes Leben in Iitate verbracht hat, lebt heute in einer Holzhütte in der Stadt Date. Ihre Hütte ist Teil einer Containersiedlung, die vor vier Jahren provisorisch geschaffen wurde – dass die Menschen dort bis heute leben würden, ahnten sie damals nicht. Setsukos neues Zuhause ist nicht viel größer als der Ausschnitt, den ihr auf diesem Foto seht:

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Selbst für japanische Verhältnisse ist das sehr klein, auch wenn Bauersfrau Setsuko es sich mit allerlei Krimskrams sehr gemütlich gemacht hat. Ihr Mann ist kurz nach dem Umzug verstorben. Sie vermutet, dass auch der Stress durch den GAU dazu beigetragen hat.

Angeblich können sie und die übrigen Nuklear-Flüchtlinge in zwei Jahren wieder zurückkehren in ihr Dorf. Angeblich deshalb, weil der Termin schon einmal verschoben wurde, eigentlich sollte die Rückkehr schon im nächsten Jahr möglich sein. Die Entseuchung dauert jedoch länger als angenommen, denn Iitate mit seinen Bergen und dem vielen Wald ist sehr schwer zu reinigen. Wo der Atommüll endgültig landen wird, ist bislang unklar. Und auch wenn die Arbeiten abgeschlossen sein werden, werden nur die Waldflächen in zehn bis zwanzig Metern Entfernung von der Straße gereinigt sein. Viele Leute, vor allem die jungen und die mit Kindern, sind längst ganz weggezogen, sie wollen sich keinem Gesundheitsrisiko aussetzen. Bei den Älteren wie Setsuko ist das anders: „Wo sollen wir denn sonst hin?“ Die Frau mit dem rosa geblümten Hemd auf dem rosa geblümt bezogenen Stuhl schenkt uns Tee aus ihrer rosa geblümten Kanne ein.

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Für die evakuierten Menschen gibt es Entschädigungszahlungen von der AKW-Betreiberfirma Tepco (die dabei vom japanischen Staat unterstützt wird). 100 000 Yen im Monat bekommt Setsuko, also etwa 740 Euro, was laut ihr für ein normales Leben im teuren Japan nicht ausreicht. Viele Einwohner von Iitate verloren mit ihrer Heimat auch ihre Arbeit, denn wie die meisten Leute aus den anderen evakuierten Dörfern waren sie als Reisbauern, Fischer, Waldarbeiter oder eben im AKW tätig. Die Entschädigungszahlung, die sie momentan erhalten, soll ein Jahr nach dem Ende der Dekontamination gestrichen werden. Heißt: Wenn man wirklich 2017 schon wieder dort wohnen kann, kriegen Setsuko und die anderen ab 2018 kein Geld mehr. Das ist vor allem für die weggezogenen jungen Eltern ein Problem, die in anderen Regionen keine Arbeit finden, aber mit ihren Kindern auch nicht zurück in ihr verseuchtes Dorf wollen.

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Die Conatinersiedlung von Date, in der Setsuko im Moment lebt.

Um die Leute zurück ins Dorf zu locken, bekommen alle, die sich in Iitate ein neues Haus bauen, Kosten erstattet, wenn sie einen Stapel Formulare ausfüllen und sich mit der AKW-Betreiberfirma Tepco einigen. Die Höhe der Summe ist abhängig vom Wert des alten Hauses, deshalb hat Setsuko einen Haufen Beweisfotos von ihrem alten Zuhause hervorgekramt, stilecht verpackt in einer Plastiktüte von Chanel. Morgen steht der Termin bei Tepco an, bei dem sie sich ihren Neubau erstreiten will. Sie ist aufgeregt und fühlt sich von Regierung und Tepco nicht gut informiert: „Die schmeißen mit Behördenvokabular um sich. Ich vermute mal, um uns alte Leute zu verwirren. Aber ich lasse mich nicht verwirren. Ich will, dass sie mir das erklären!“ Sie glaubt nicht daran, dass es gesund sein wird, wieder in Iitate zu wohnen, auch wenn sie gesundheitlich nicht mehr so viel zu verlieren hat, „in meinem Alter ist das ein bisschen egal.“ Mehr Sorgen macht ihr, dass es keine funktionierende Infrastruktur vor Ort gibt und sie und viele andere nicht fit genug sind, um sich in dieser Situation gut selbst zu versorgen: „Die haben uns und unser Dorf einfach vergessen.“

Ein anderer Ort, Naraha, wurde von der Regierung im September 2015 wieder freigegeben, die Dekontaminierungsarbeiten sind offiziell abgeschlossen. Dort ist schon passiert, was Iitate womöglich 2017 bevorsteht. „Bisher sind erst etwa 700 Menschen dorthin gezogen“, erklärt uns Journalistin Tomomi. Das ist gerade mal ein Zehntel der früheren Bevölkerung. Die meisten von ihnen sind alte Menschen, die keine andere Wahl haben oder Arbeitskräfte, die die verseuchte Region im Umkreis reinigen. Also zum Beispiel die Leute, die gerade in Iitate den Boden abtragen.

Es gibt bislang kein Krankenhaus und für Besorgungen muss man weit fahren. Außerdem misstrauen viele Leute aus Nahara, ähnlich wie Setsuko aus lidate, den offiziellen Strahlenwerten: „Die geben nur einen Durchschnitt der nuklearen Belastung an und vernachlässigen die Hotspots! Ich fahre regelmäßig mit meinem eigenen Geigerzähler ins Dorf und messe nach!“, erzählt Setsuko. Auch der nicht mehr funktionierende Arbeitsmarkt in Naraha und den anderen Orten sei ein Problem, meint Journalistin Tomomi: „Die Regierung sagt: die Leute können wieder in ihre alten Jobs zurück – aber das geht nicht so einfach. Die Jobs gibt’s ja quasi nicht mehr. Viele Japaner wollen nichts von Bauern aus dieser Region kaufen.“

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Setsukos alte Heimat heute.

In Deutschland war in den vergangenen Tagen vor allem ein Fall in den Schlagzeilen: Ein AKW-Arbeiter hat eine Entschädigung zugesprochen bekommen, weil er an den beschädigten Reaktoren gearbeitet hat und mittlerweile an Leukämie erkrankt ist. Wir sprechen Tomomi, die für ihre Nachrichtenagentur seit mehr als zwei Jahren zu Tepco, dem Nuklearunglück und den evakuierten Bewohnern recherchiert, auf die Artikel an. Sie sieht den Fall weniger eindeutig als er in deutschen Medien dargestellt wird: „Ja, der Mann ist aufgrund von radioaktiver Strahlung an Leukämie erkrankt, allerdings hat er zuvor schon in verschiedenen anderen Atomkraftwerken gearbeitet. Das heißt: Die Erkrankung muss nicht zwingend vom Unfall stammen, ist aber auf jeden Fall eine Folge der Nutzung von Atomenergie.“ Die Mehrheit der Japaner ist heute gegen die Nutzung von Atomkraft, die Regierung hat trotzdem die ersten beiden Werke wieder an den Start gebracht. Auch weil Japan im Gegensatz zu Deutschland keine Nachbarn hat, auf deren Stromversorgung es im Notfall zurückgreifen könnte.

Setsuko erinnert sich daran, dass es damals, als das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi gebaut wurde, in ihrem Dorf Widerstand gab: „Einige Leute hatten Angst vor dem Kraftwerk. Aber damals hörte niemand auf sie, es schien viel zu unwahrscheinlich, dass etwas schiefgehen könnte!“ Was zu spüren ist bei Setsuko ist eine große Unsicherheit, diese Ahnung, dass du nicht wirklich darauf vertrauen kannst, ob in deinem Zuhause wieder alles ok sein wird. Selbst wenn sie eines Tages nach Iitate zurückkehren kann: „Es wird nie mehr so sein wie früher. “

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Obwohl Setsukos Lebensumstände nicht gerade die schönsten sind, wirkt sie die meiste Zeit über ziemlich gut gelaunt. Lacht, raucht, trinkt viel Tee und erzählt von den gemeinsamen Erinnerungen mit ihrem Mann, der auch die meisten Fotos aus der Zeit in Iitate gemacht hat, denn er liebte Fotografieren. „Mit dem Rauchen habe ich erst mit 65 begonnen. Vorher wollte ich meine Gesundheit nicht ruinieren“, erklärt uns Setsuko außerdem. Dann empfiehlt sie uns, schnell zu heiraten und Kinder zu kriegen und gesteht uns beim Abschied an der Holztür, dass sie vor dem Treffen aufgeregt war: „Das war das erste Mal, dass ich mich mit Ausländern unterhalten habe.“

Wir werden über die Recherche in Fukushima natürlich auch einen Film für euch schneiden. Welche Infos sollen da noch rein? Welche Themen interessieren euch besonders? Habt ihr Rückfragen? Unser nächster Recherchestopp wird übrigens die Stadt Aizu Wakamatsu sein. Dort treffen wir die deutsche Studentin Isabel, die sagt: „Ich lebe gerne in Fukushima.“

Danke an Masami, die uns an diesem Tag alles, was uns Tomomi und Setsuko erzählt haben, so großartig übersetzt hat. 

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