Wenn Sina singt: Über Nacht unter Seemännern

Wir haben immer noch ein Lied in Kopf, das uns ein besonderer Mensch vor ein paar Tagen in der Hamburger Seemannsmission vorgesungen hat. Wie jede Woche haben wir in eurem Auftrag an einem ungewöhnlichen Ort übernachtet. Teil 6 der “Schickt uns schlafen”-Kolumne haben wir unter Seemännern direkt an der Elbe erlebt.

Im_Klub_klein

Der Klub ist im Keller und der Keller ist voll. Voll mit jungen schmächtigen Männern, die Baseballcaps tragen, an ihren Smartphones kleben und skypen. Wir sind in der Seemannsmission Hamburg Altona. Hier ist das WLAN billig und es gibt Chips aus Schweinekrusten und Kondome zu kaufen. Sina steht hinter der Bar. Er ist seit 27 Jahren im Seemanns-Unterstützungsbusiness unterwegs und aus Malaysia nach Deutschland eingewandert. Jetzt dreht er die Stereoanlage auf: „Hört gut zu, ich singe jetzt einen philippinischen Schlager.“ Es ist elf Uhr morgens.

Mit viel zu vielen schlechten Seemannsklischees sind wir am Vorabend angekommen. Bärtige Matrosen mit weißem Haar, rauer Stimme und kräftigem Körperbau inklusive Anker-Tattoos schunkeln sich durch unsere Gehirne, als wir die Treppen an der Großen Elbstraße hochsteigen, direkt am Wasser. Die AIDA tutet, während wir einchecken, die Touristen stehen an Deck und senden Winkgrüße aus ihrem Kreuzfahrtleben. Wir aber wollen die Menschen kennenlernen, die nicht zum Spaß an Bord gehen, sondern zum Arbeiten.

Clas hat uns vorgeschlagen, dass wir eine Nacht unter Seemännern schlafen. Hier geht das. Am Elbufer verbringen Besatzungsmitglieder die Nacht, bevor ihre Schiffe wieder rausfahren aufs Meer und die nächste Station anpeilen. Touristen dürfen auch hier übernachten, aber nicht zu viele, und sie zahlen mehr. Die Mission wurde schließlich gegründet, um Seeleuten eine günstige Übernachtung zu ermöglichen.

Einer der Seeleute, die das heute nutzen, ist Alamgir aus Indien. Seit 35 Jahren arbeitet er auf Containerschiffen im Maschinenraum. Moskau, Manila, Tuvalu, New York, Hamburg. Wir treffen ihn in der Lobby, wo er herumsitzt und seine Familie vermisst. Vier Kinder, die er im Jahr drei Monate lang sehen kann. In den anderen neun Monaten arbeitet er sich unter Deck durch die Welt. „Das Leben auf dem Schiff ist hart“, sagt er. Mittlerweile ist er 60 und hustet. Schmerzen im Brustbereich. Noch etwa vier Jahre, dann darf er in Rente. Wenn es vorbei ist, ist er froh: „Happy happy.“

Wenn es vorbei ist mit der Zeit auf See, ist dieser Seemann froh: „Happy happy.“

Wenn es vorbei ist mit der Zeit auf See, ist dieser Seemann froh: „Happy happy.“

Gegen zehn, halb elf erkunden wir den Keller. Mal schauen, was da geht, wo Billardtisch und Kicker stehen. Nichts. Nur Bente (FSJ-lerin) und Roman (studentische Aushilfe) verbringen hier ihre Nachtschicht. Nee, die Seemänner, die schlafen doch schon, erklären sie uns. Mit denen könnt ihr morgen früh reden. Und wie sind die so? „Jedenfalls nicht so, wie sie von europäischen Touristen wahrgenommen werden“, sagt Bente. Wir Landratten hätten ja keine Ahnung. An Bord herrsche eine Mehrklassengesellschaft. Unten schuften Philippinos, Inder, Südamerikaner oder Ukrainer, das Steuer haben reiche Europäer in der Hand. Wir sollen morgen Sina treffen, der kennt das Seemannsleben und weiß auch, was sich in den vergangenen Jahren verändert hat.

Wir gehen schlafen, in unserem Mini-Zimmer mit Blick auf die Docks, auf denen tagsüber Kräne Container durch die Luft schieben:

Hafen_Totale_kurz

Einmal kurz wachen wir auf, als englischsprachige Touristen auf dem Flur mit dem Fön rumspielen. Die Seemannsnacht ist verdammt kurz, Frühstück gibt’s schon um sieben Uhr. Gähnend sitzen wir im Speisesaal. Am Fenster laufen Pflanzen und Obstkörbe vorbei, die vom Fischmarkt kommen. Nach dem Essen schauen wir wieder in die Kellerbar. Stimmt, jetzt ist es voll. Und der Mann da hinter der Holztheke muss Sina sein. Er trägt einen Anzug und spricht acht Sprachen. Und er kennt die Jungs, die auf eine Runde WLAN in der Mission vorbeischauen. „Hey“, Sina winkt einen der Smartphone-Seemänner zu sich. Ankit, 24. Wie Alamgir vom Vortag kommt auch Ankit aus Indien. „Erzähl den beiden mal von deinem Leben auf dem Schiff!“ Ankit arbeitet auf der AIDA und ist dafür zuständig, dass in seinem Bereich des Bord-Restaurants 120 Kreuzfahrtgäste gleichzeitig ihr Essen serviert bekommen. Er macht das für ein paar Jahre, weil er damit gut Geld verdient. Aber auf dem Schiff arbeiten und eine Familie haben – das funktioniert nicht, glaubt er: „Sobald ich eine Frau habe, höre ich auf.“

Klar, das Internet macht die Kommunikation leichter. An Bord zahlen die Seeleute viel mehr Geld dafür als hier. Das ist auch der Grund, warum tagsüber so viele hier abhängen und es gestern Abend so leer war. „Mittlerweile verlassen viele Seemänner ihr Schiff nur noch für ein paar Stunden und übernachten gar nicht mehr hier“, erklärt uns Sina. Alles an Bord laufe schneller. Viele Schiffe bleiben nicht mehr tagelang im Hafen liegen. Auch Ankit bleibt nur für drei Stunden in der Seemannsmission, dann muss er den Fünf-Uhr-Tee für die Gäste vorbereiten. Ein nettes Gespräch mit Sina, eine Runde Skypen und schon muss er zurück. Keine wilde Kneipennacht auf St. Pauli oder nächtelanges Geschunkel in der Bar. Den anderen im Klub geht’s ähnlich. Die meisten Seemänner hier arbeiten mittlerweile auf Kreuzfahrtschiffen, das Business wächst. Tanker und Containerschiffe brauchen immer weniger Mannes- und dafür mehr Maschinenstärke. Und das, was früher die Nacht war für die Seefahrer, das sind heute die freien Mittagsstunden.

Seemannsfreund Sina

Seemannsfreund Sina

Aber es haben sich auch Dinge verbessert, die Gewerkschaft der Seeleute hat eine neue Grundrechte-Charta durchgesetzt, die seit vergangenem Jahr gilt: Die Löhne wurden international angeglichen, die tägliche Arbeitszeit ist gesunken. „Früher haben wir 17 Stunden gearbeitet, heute sind es 11“, erzählt uns ein Seemann. Er sei glücklicher als früher.

Als Sina die ersten Zeilen des Schlagers vom philippinischen Sänger Fredie Aguilar singt, fangen die Philippinos an zu lachen, zu klatschen und drehen ihre Skype-Frauen auf den Tablets herum, so dass die den singenden Sina auch sehen können. Wenn Sina singt, fühlt sich das nach Familie an.

Dieser Text ist Teil einer wöchentlichen Kolumne, die nicht nur auf unserem Blog, sondern in gekürzter Fassung auch hier auf jetzt.de von der Süddeutschen Zeitung erscheint. Wenn ihr Ideen für ungewöhnliche Übernachtungsorte habt, dann meldet euch bei uns!

Sinas (selbst gesungenes) Lieblingslied („Ihr müsst das unbedingt verlinken, bitte, bitte, bitte!“) könnt ihr euch hier anhören:

 

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.