Das einzige, das Favela-Bewohnerin Maria hat, ist ihr Zuhause. Egal, wie elend es auf andere wirkt. Unterwegs zu einem Ort, der bald verschwunden sein könnte.
von Lisa Altmeier und Steffi Fetz
Maria streicht durch das Haar eines Plastikponys. Fünf Jahre alt könnte sie in diesem Moment sein. Wäre da nicht ein Säugling um ihren Bauch geschnallt. Stünde da nicht ein zweites Kind, das nach Mama schreit und Maria meint. Maria ist 17. Als wir zum ersten Mal in ihr kindliches Gesicht mit den Pausbacken schauen, erschrecken wir. Rote Striemen, lang und dick wie Streichhölzer. Die auf der Stirn sind besonders tief. „Eine Favela kennt man nur, wenn man ganz oben war“, sagt sie und nimmt uns mit an den Ort, den sie liebt. Und um den sie sich große Sorgen macht. Einmal mit Maria nach Hause gehen, es wird ein Aufstieg nach unten.
Der Heimweg mit Maria beginnt da, wo die Favela Cantagalo noch Straßen hat und es eine Spendensammelstation gibt. Maria holt hier normalerweise Kleidung und Spielzeug für ihre Kinder. Sie geht nicht arbeiten. Wie auch, als Mutter zweier Kinder und Minderjährige aus der Favela? Der Vater ihrer Kinder hat auch kein Geld. Die Windeln sind knapp geworden. Sie hatte gehofft, hier welche aufzutreiben. „Das spendet niemand“, hat ihr die Frau geantwortet, die die Spenden verteilt. Stattdessen drückte sie Maria das Plastikpony und einen Schnuller mit eingebautem Fieberthermometer in die Hand.
Wenn Maria jetzt nach rechts abbiegen würde, wäre sie in wenigen Minuten am Meer. Am berühmtesten Strand Rio de Janeiros, an der Copacabana. Dort wo sich Touristinnen in knappen Bikinis sonnen und Strandverkäufer Kokosnüsse verkaufen. Maria biegt nie nach rechts ab. Sie kennt die Schönheit der Copacabana gut. Aber nur von oben. Ihre Finger greifen nach Sohn Luan, Baby Leandro wippt bei jedem Schritt auf ihrem Bauch auf und ab. Die drei gehen nach links, Richtung Bergseilbahn. Ein klappriger Wagen, der die 17-Jährige und ihre Kinder nach oben bringen wird – zumindest einen Teil des Weges. Sie stellen sich ans Ende der Schlange. Abfahrtszeiten gibt es nicht. Der 20-Personen-Aufzug fährt los, wenn er voll ist. Die Fahrt kostet nichts.
Die Seilbahn quietscht sich den Hügel hoch, vorbei an vielen Hütten auf wenig Raum. Türme wie Bauklötze. Viel zu früh stoppt die Bahn, viel zu weit weg von Marias zu Hause. Sie werden in einer der vielen engen Gassen ausgespuckt, in ein Labyrinth aus schmalen Abzweigungen und steilen Treppen. Luan ist langsam. „Komm Luan, komm“ sagt Maria. Es riecht nach Pisse. Das Abwasser umfließt die Plastikbecher und den übrigen Kram, der auf den Wegen liegt. Maria und ihre Kinder steigen darüber hinweg. Aber immerhin.
Bis vor drei Jahren mussten die Bewohner der Favela noch an einem bewaffneten Aufpasser vorbei, wenn sie nach oben wollten. Auf der Hälfte des Berges war ein Checkpoint des Comando Vermelho. Das ist die Drogenbande, die das Viertel kontrollierte. Seit 2008 stationiert die brasilianische Regierung Sondereinheiten der Militärpolizei in einigen Favelas von Rio. Sie sollen die Banden mit Gewalt aus den Elendsvierteln vertreiben, sie sollen den Ort befrieden. Auch in Cantagalo regiert jetzt nicht mehr die Drogenbande, sondern die Polizei.
Cantagalo war eine der ersten befriedeten Favelas – weil sie im Süden Rios liegt. In der Nähe der reichen Viertel. Wenn nächstes Jahr die Touristen zur Fußball-WM strömen, sollen die Favelas weniger elend aussehen. Offiziell heißen sie auch nicht mehr Favelas, sondern „Communidades“, Gemeinschaften. Doch das sei Make-up, rufen die Demonstranten auf den vielen Protesten gegen die WM, die es in den letzten Wochen in Rio gab. Sie regen sich darüber auf, dass Fußballstadien gebaut werden, während die Menschen in den Favelas kein funktionierendes Abwassersystem haben. In Wahrheit ginge es den Leuten hier genau so schlecht wie vorher.
Luans Augen sind so groß wie die von Maria, seine Ringe darunter größer. Der Zweijährige setzt sich auf eine der Stufen. „Pause?“ fragt Maria. Pause. Wir haben irgendwann aufgehört, die vielen hundert Stufen zu zählen. Es ist nicht mehr weit bis zu ihrem Zuhause ganz oben, bis nach „Caranguejo“,erklärt sie uns. Aber bevor wir dort ankommen, will sie uns noch etwas zeigen.
Der Ausblick von der Betonplattform, auf die Maria uns führt, wäre der Traum jedes Touristenführers. Da unten liegt sie, die Copacabana. Luan stellt sich ganz vorne auf den großen Felsen. Wie er dort thront, sieht er aus wie ein kleiner König über all den Hotels, den Wellen und dem weißen Sand. Er gluckst. „Dieser Blick belohnt uns dafür, hier zu wohnen,“ sagt Maria, während neben ihr ein Junge zwei gammelige Matratzen flickt. Sie blinzelt gegen die Sonne und schaut hinunter zu den Menschen, die alles haben, was sie nicht hat. Von hier oben sind sie nur kleine Punkte. Wir stehen mitten in einer Mülldeponie. Luan hüpft am steilen Hang zwischen dem Abfall herum, der trotz des großen neuen „Wir halten unsere Favela sauber“-Schildes überall zwischen den Sträuchern herumfliegt. Bis vor ein paar Jahren haben sie hier auch die Überreste der Verstorbenen neben die Plastiktüten geworfen, hinein in die Postkarten-Idylle.
Ja, dass es hier weniger Gewalt gibt, ist gut, findet Maria. Doch bevor die Favela befriedet wurde, war das hier das Privatpanorama von ihr und den anderen Bewohnern. Denn bevor die Favela befriedet wurde, stufte der Gouverneur das hier als gefährliche Wohngegend ein. Seit aber die Polizei für Sicherheit sorgt, würden sich auch andere Menschen für diese Aussicht interessieren, sagt Maria. Menschen, die glauben, dass sie mit dieser Aussicht viel Geld verdienen können. Das klappt aber nur, wenn der Müll und die verfallenen Hütten mitsamt ihrer Bewohner verschwinden. Nur dann können hier Hotels entstehen. „Der Gouverneur will uns vertreiben,“ sagt sie. „Sie wollen die Plattform in einen Touristen-Hotspot verwandeln. Aber niemand von uns will hier wegziehen.“
Maria liebt ihr Zuhause. Deshalb geht sie nur noch nach unten, wenn es wirklich sein muss. Denn als ein paar andere Favela-Bewohner vor ein paar Wochen von der Arbeit nach Hause gekommen sind, gab es deren Zuhause nicht mehr. Leute von der Stadt hatten die Wände eingeschlagen und alles platt gemacht. Ohne Erklärung.
In anderen Favelas in Rio de Janeiro ist auch schon passiert, wovor sich Maria fürchtet. Zum Beispiel in Santa Marta, dem Vorzeigemodell der Regierung. Jeden Tag kommen bis zu 100 Touristen dorthin, um die schöne Aussicht zu genießen. Der Wert einiger Grundstücke habe sich verdoppelt, schreiben lokale Medien. Die Bewohner aber haben Bettlaken mit „Apartheid“ und „Vertreibung“ an ihre Häuser gehängt, weil sie das Gefühl haben, dass ihre Favela nicht mehr ihnen gehört.
Maria führt uns weiter, vorbei an singenden Kindern und Menschen, die Ziegelsteine hinauf schleppen. Neben ihr schleicht sich ein Bett auf einem Männerrücken den Berg hinauf: Maria quetscht sich in einen Häusereingang, während der Mann unter der Matratze ein verschwitztes Hallo murmelt. Cantagalo ist eine nie endende Baustelle. Je höher wir kommen, desto weniger Hütten sind verputzt, desto verfallener sind sie, desto wackliger sind sie zusammengeklebt. Rohbau neben Rohbau. Vorbei an einem Schuttberg, aus dem verdreckte Rohre auf den Weg ragen. Vorbei an einem Matratzen-Lager unter ein paar morschen Balken, ohne Dach.
Niemand interessiert sich für die Menschen, die hier oben wohnen, sagt Maria. Sie werden als der Müll angesehen, in dem sie sich bewegen. Vor ein paar Wochen ist das Licht in ihrer Hütte ausgefallen. Und der einzige Stromkonzern in Rio weigerte sich, jemanden auf den Berg zu schicken. Auch darum, dass Maria die Schule nach der siebten Klasse abgebrochen hat und Mutter wurde, kümmert sich niemand. So eine Geschichte ist nichts Ungewöhnliches für ein Mädchen aus der Favela. Doch Maria träumt davon, wieder zur Schule zu gehen. Und von einer Krankenversicherung für Luan und Leandro. Geld für einen Arzt hat sie nicht, nicht für sich und nicht für ihre Kinder.
Luan hält sich immer wieder mit Daumen und Zeigefinger die Augen auf, er verliert seine Flip-Flops einige Male. „Komm Luan, komm.“ Die Stufen sind schief und unterschiedlich groß, er muss sich manchmal mit den Händen hochdrücken, um sie zu erklimmen.
Dann sind sie da. Wir sind ganz oben angekommen, in „Caranguejo“, in Marias Zuhause. An dem Ort, der ihr so viel bedeutet. Hier oben ist der Geruch nach Fäkalien am penetrantesten. Maria läuft an ein paar Jungs vorbei, die auf einem Holzbrett abhängen wie auf dem Geländer eines Autoscooters. Sie interessieren sich nicht für Maria, vielleicht nehmen sie Maria auch gar nicht wahr, so stoned wie sie sind. Die Wäsche schwingt im Wind, eine alte Frau und Kinder rufen durcheinander.
Ganz links steht die kleine Hütte, in der Maria, ihr Mann, ihre Kinder und viele andere schlafen. Sie ist aus Holzbrettern zusammengenagelt, mit einer Tür aus Wellblech, über das Bretterdach ist eine Plastikplane gestülpt. Wenn es regnet, werden sie in der Hütte nass. Der Kühlschrank hat nicht mehr reingepasst, er steht rechts neben dem Eingang. Mit wie vielen Menschen wohnt Maria darin? Ich hab nie gezählt, sagt sie. Überlegt und kaut dabei auf ihren vollen Lippen herum. Vielleicht 20. Dabei hat die Hütte nur ein paar Zimmer. Sie mag sie trotzdem.
Der kleine Schuttplatz vor der Baracke ist Marias Wohnzimmer. In der Mitte steht das ganze Jahr ein Weihnachtsbaum. Aus Plastikflaschen und mit gelbem Stern oben drauf. In Marias Zuhause ist ein kaputter Herd die einzige Abstellfläche für Blumentöpfe. Zwei kleine Mädchen in Jeanskleidern fahren mit ihren pinken Rädern über den Platz. Maria und ihre Familie teilen sich dieses ausgelagerte Wohnzimmer mit den Nachbarn. Eine der Nachbarinnen war es auch, die im Streit die Striemen in Marias Gesicht gekratzt hat. Maria hat ihr mittlerweile verziehen.
Maria setzt sich auf eine Steinmauer vor der Hütte, wippt Leandro im Arm und zeigt auf das, was hinter ihr liegt: „Andere Leute sagen, dass wir hier oben in der Scheiße leben. Aber ich fühle mich wohl, ich will nicht weg.“ Die Scheiße ist ihr Zuhause.
Schreibe einen Kommentar