Vor kurzem haben wir euch erzählt, dass wir uns mit dem Studenten Rafael Rezende von der Internetseite „Panela de pressao“ (deutsch: Schnellkochtopf) getroffen haben. Leserin Bel hatte uns auf ihn aufmerksam gemacht. Jetzt sind wir endlich mal dazugekommen, seine interessante Geschichte aufzuschreiben. Wie ihr vielleicht auf unserer Seite mitbekommen habt, gehen die Menschen in Brasilien immer noch auf die Straße, um für bessere Schulen und Krankenhäusern zu demonstrieren und darauf aufmerksam zu machen, dass soviel Geld unter anderem in den Umbau der WM-Stadien gesteckt wird. Gerade die jungen Leute protestieren aber nicht nur, sie entwickeln auch neue Ideen. Eine dieser Ideen ist der Schnellkochtopf. Wie er funktioniert, könnt ihr hier lesen:
Als verkündet wurde, dass Brasilien in den nächsten Jahren Gastgeber für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele sein wird, sagten sich ein paar Studenten aus Rio de Janeiro: „Das ist unser großer Moment!“ So erzählt es der 20-jährige Rafael Rezende, während er sich in der Uni-Mensa eine Ladung Bohnen auf den Teller klatscht. Der Student der Kommunikationswissenschaften und seine Freunde hatten lange auf eine Gelegenheit gewartet, um die Politik in ihrer Stadt zu verändern. „Wir dachten: Jetzt ist die internationale Aufmerksamkeit da. Jetzt legen wir los“, sagt Rafael. Sie gründeten die Organisation Meu Rio, „Mein Rio“. Dort können die Einwohner Rio de Janeiros selbst politische Kampagnen für ihre Stadt starten. Die ursprüngliche Idee für „Meu Rio“ hatten Alessandra Orofino und Miguel Lago. Mittlerweile besteht das Team aus 134 Gesichtern.
Seit Juni protestieren täglich junge Leute in brasilianischen Großstädten gegen die Politik in ihrem Land. Mit Plakaten für bessere Schulen, Transportsysteme und Krankenhäuser ziehen sie durch ihre Straße. Doch die Studenten von Meu Rio machen mehr als das: Sie überlegen sich übergeordnete Konzepte dafür, wie sie die Stimmung im Land für eine neue Form der Politik nutzen können.
Müllberge in der Wohnsiedlung, fehlende Toilettenabflüsse in der Favela, viel zu hohe Buspreise – all das beschäftigt die Leute in Rio de Janeiro. Früher interessierte das niemanden, gerade die Probleme der weniger Wohlhabenden wurden ignoriert. Jetzt gibt es die von Meu Rio entwickelte Internet-Seite Panela de Pressao, „Schnellkochtopf“.
Gerade ist Mittagspause an der Uni von Rafael Rezende, der UFRJ. Sie ist eine der besten Universitäten des Landes. Auf dem iPad zeigt er am Mensa-Tisch, wie der Schnellkochtopf funktioniert. „Wenn jemand etwas in der Stadt verändern will, schreibt er uns eine Nachricht und wir starten passend dazu eine politische Kampagne.“ Rafael und seine Freunde prüfen bei jedem Vorschlag, ob Problem und Lösungsvorschlag konkret genug sind. Wenn ja, streuen sie die Kampagne per Internet und Telefon: Bei anderen Einwohnern und bei denen, auf die es ankommt: den Politikern. Mit einem Knopfdruck kann man auf Meu Rio dem zuständigen Politiker eine E-Mail schicken – und ihn neuerdings direkt in seinem Büro anrufen. 50.000 Menschen haben diese Möglichkeiten schon genutzt.
Schnellkochtopf heißt die Seite deshalb, weil es in Brasilien ein Sprichwort gibt, das besagt: Politiker arbeiten nur im Schnellkochtopf. Also nur dann, wenn sie sehr stark unter Druck gesetzt werden. Genau das ist das Ziel der Studenten. „Wir nerven die Politiker so lange, bis sie sich um uns und die Bewohner der Stadt kümmern,“ sagt Rafael. „Wir bitten sie einfach darum, ihren Job zu machen.“
Oft reagieren die Entscheider erst mal gar nicht, auch wenn mehrere Tausend Menschen ihnen E-Mails zu einer Kampagne schicken. „Das ist deprimierend“, so Rafael. Manchmal ist er aber auch von den schnellen Reaktionen überrascht: „Der Verkehrsbeauftragte der Stadt hat innerhalb von ein paar Stunden unsere E-Mails mit seinem Smartphone beantwortet.“ Leute hatten sich darüber beschwert, dass sie auf den Fähren zwischen Rio de Janeiro und der Nachbarstadt Níteroi neuerdings eine Gepäcksteuer zahlen sollten, die sie sich nicht leisten könnten. Viele von ihnen pendeln jeden Tag mit der Fähre zu ihrer Uni oder zum Arbeitsplatz. „Stimmt, ihr habt recht, ich werde das ändern“, schrieb der Politiker und tat kurze Zeit später genau das.
Meu Rio streut seine Kampagnen im Internet. Mithilfe von sozialen Netzwerken wird der Druck auf die Politiker schnell groß. Damit ähnelt die Arbeit der Organisation der Herangehensweise von Online-Petition-Tools wie Avaaz oder Change.org. Dort gibt es allerdings keine Möglichkeit, mit dem jeweiligen Politiker direkt in Kontakt zu treten.
Rafael kommt aus einer politischen Familie, beim Mittagessen hat er immer schon mit den Eltern über die Regierung und die Probleme Brasiliens gesprochen. Bis vor Kurzem galt das in Brasilien als exotisch. Die junge Generation war als politisch desinteressiert verschrien.
Doch gerade seit dem letzten Jahr wird immer deutlicher, dass mehr junge Leute nach Lösungen für die Probleme im Land suchen und in Gruppen diskutieren. Parallel dazu versammeln sich Menschen auf den Straßen, weil die Organisation der Fußball-WM und die vielen Millionen, die in Prestige-Projekte gesteckt werden, symptomatisch für die schlechte Verteilung der Steuern in Brasilien sind. Plattformen wie Facebook und Twitter werden immer häufiger politisch genutzt. Das zeigt auch die Arbeit der sogenannten Ninja-Reporter. Das sind junge Leute, die die Proteste auf den Straßen per Live-Stream ins Internet übertragen und mithilfe von sozialen Netzwerken verbreiten.
Meu Rio finanziert sich per Crowdfunding. „Wir sind eine Art Start-up“, sagt Rafael. Seit April zahlen etwa 600 Menschen monatlich Geld an die Organisation. Alle Investoren sind Privatpersonen. Meu Rio will weder Geld vom Staat noch von Parteien oder Unternehmen. Inzwischen erhalten die Studenten nicht nur Nachrichten von Menschen aus Rio, sondern auch von Personen aus New York oder Paris. „Im Moment könnten wir uns nur um das kümmern, was in Rio schief läuft“, sagt Rafael. „Aber theoretisch kann man unser Prinzip überall auf der Welt anwenden.“ Aber jetzt sind erst mal die anderen Großstädte Brasiliens dran. Gerade bauen sie eine Seite für Sao Paulo auf.
Anmerkung: Dieser Text erscheint nicht nur auf unserem Blog, sondern auch auf ZEIT Online.
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