Tobi lebt eine Utopie – Was ist eigentlich los mit dir, Deutschland? Folge 22

Extremer Minimalismus: Er will den Kapitalismus abschaffen, verzichtet auf tierische Lebensmittel, demonstriert gegen die AfD und teilt sich seinen Kleiderschrank mit zehn Mitbewohnern. Wir haben Utopist Tobi Rosswog einen Tag lang begleitet und uns seine Kommune „Liebermenschhaus“ angesehen.

Hier kommt Folge 20 von „Was ist eigentlich los mit dir, Deutschland?“ zum Thema „Extremer Minimalismus: Tobi lebt eine Utopie ohne Kapitalismus“:

Zum Recherchehintergrund:

1. Warum gerade dieses Thema?

Unsere Zuschauerin und Leserin Theresa schrieb uns auf unserer Startnext-Crowdfunding-Seite, dass sie sich von uns eine Berichterstattung über Menschen wünscht, die eine Utopie leben:

“Also mich würde interessieren, was „im Kleinen“ passiert. Wo leben einzelne Menschen oder kleine Gruppen eine Alternative? Vielleicht auch eine „Utopie“? Wo wagen sie etwas? Wo versuchen sie etwas? (eigentlich so wie ihr auch?:)) Ich habe das Gefühl, dass die momentane Situation uns eigentlich dazu aufruft, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen. Und ich könnte mir vorstellen, wenn allgemein mehr von Menschen berichtet würde, die schon was machen, schon etwas „wagen“, die bei einem Thema, das unsere Gesellschaft betrifft, „mit dem Herzen dabei sind“, dann könnte das andere sehr inspirieren. Für mein Gefühl wird im Moment in den Medien so unglaublich viel Angst gemacht. Und Angst lähmt. Ich wünsche mir einen „ermutigenden“ Journalismus. Ich glaube, das würde Deutschland mit aus seiner Starre helfen.

Klang einleuchtend. Also machten wir uns auf die Suche nach Utopisten. Und zwar mit diesem Videoaufruf:

Per Facebook empfahl uns Userin Alina das Projekt Living Utopia, das Tobi gegründet hat. Und so landeten wir schließlich im „Liebermenschhaus“ in Mainz.

2. Welche Schwierigkeiten traten bei der Recherche auf?

Tobi führt ein extrem minimalistisches Leben, besitzt dementsprechend kein Smartphone und liest Emails nur unregelmäßig auf einem alten Rechner. Aus diesem Grund brauchten wir ein paar Anläufe, bis wir einen Termin mit ihm ausmachen konnten.

Zu Besuch im "Liebermenschhaus"

Zu Besuch im „Liebermenschhaus“

Vor ein paar Monaten haben wir mit ein paar unserer Crowdfunding-Unterstützer eine Premierenparty gemacht, auf denen wir ihnen die ersten fertigen Filme gezeigt und über sie diskutiert haben. Dort zeigten wir auch unseren Film über Tobi. Das war sehr gut für uns, denn die Unterstützer äußerten den Wunsch, dass wir den Film verlängern, weil sie ihn zu kurz fanden. Das haben wir dann auch gemacht.

Etwas schwierig ist, dass Tobi sehr sehr viele Ideen hat und an diversen Projekten beteiligt ist. Trotz der nun längeren Version des Videos werden wir diesen ganzen Ideen nicht komplett gerecht, da man über jedes dieser Projekte einen eigenen Film machen könnte und Tobis Utopie sehr weitreichend ist. Mit dem Video können wir euch also nur einen kleinen Einblick in seine Visionen geben.

Tobi erwähnt ja mehrmals im Film seine vier Motive, nach denen er sein komplettes Leben ausrichtet. Da diese nicht so einfach zu verstehen sind, hier noch mal seine Utopie im Detail. Tobi lebt:

Geldfrei

Mehr als zwei Jahre lang hat er überhaupt kein Geld verwendet. Denn es stört ihn, dass es in unserer Gesellschaft so oft nur ums Geld geht und dass Menschen in Arme und Reiche unterteilt sind. Tobis Vision: Kein Geld für niemanden. Er erzählte uns, dass es nicht schwierig war, ohne Geld zu leben, da wir aus seiner Sicht in einer Überflussgesellschaft leben, in der ohnehin viel zu viele Dinge weggeworfen werden, wir viel zu viele technische Geräte und Kleidung besitzen und ständig neu kaufen und in der zu viele Wohnungen leerstehen. Er trampte, nutzte Foodsharing und ging zu Kleiderschenkpartys. Letztlich lebt er aber inzwischen nicht mehr komplett geldfrei, denn um das „Liebermenschhaus“ zu gründen, also die WG, in der wir ihn besucht haben, brauchte er Geld. Aus dem Grund nimmt er inzwischen für seine Vorträge Geld an Unis und auf Konferenzen. Von diesem Geld zahlt er einen Teil der Miete für das Haus und seine Krankenversicherung. Ansonsten lebt er radikal geldfrei. Er sagt: „Ich will meine eigenen Talente mit anderen zu teilen, ohne auf Gegenleistung angewiesen zu sein“ und wünscht sich eine Welt, in der Menschen freiwillig ihre Fähigkeiten miteinander austauschen.

Ökologisch

Tobi versucht, so wenige Ressourcen wie möglich zu verwenden, um in seiner Umwelt möglichst wenig Schaden anzurichten. Aus diesem Grund gibt es im Liebermenschhaus zwar einen Kühlschrank, dieser läuft aber nur drei Monate im Jahr. Denn in der übrigen Zeit ist es draußen auf der Küchen-Fensterbank kalt genug, um Lebensmittel dort zu lagern oder im kühlen Keller unterzubringen. Er sagt: „Die Ressourcen dieses Planeten sind endlich. Wir müssen sie schonen.“ Auch hier stößt er gelegentlich an Grenzen: Tobi organisiert seine Projekte über das Internet, hierfür greift er auf Ressourcen wie Strom und Technik zurück – wenn auch in wesentlich geringerem Ausmaß als viele andere Menschen.

Vegan

Mit dem ökologischen Prinzip hängt auch Tobis vegane Lebensweise zusammen. Er sagt: „Der Konsum tierischer Lebensmittel ist einer der Hauptverursacher des Klimawandels.“ Aus dem Grund gibt es im Liebermenschhaus weder Milch noch Eier noch Fleisch.

Solidarisch

Solidarisch bedeutet: Niemand soll ausgebeutet werden. Weder die Näherin in Bangladesch, die für uns Menschen in Deutschland, Billigklamotten näht, noch das Schwein im Mastbetrieb. Tobis Ziel: Alle sollen sich gegenseitig unterstützen, statt sich untereinander auszubeuten. Grenzen findet er furchtbar, den deutschen Staat würde er am liebsten abschaffen.

Wer sich tiefer gehender mit den Ideen hinter dem Projekt „Living Utopia“ auseinandersetzen will, der findet auf Youtube Vorträge von Tobi, in denen er seine Ideen noch weiter erläutert, unter anderem zum Thema „Geldfreies Leben“:

3. Was haben wir gelernt?

Wie ihr in unserem Film über Tobi auch sehen könnt, gibt es Punkte, an denen wir in der Diskussion mit ihm nicht wirklich weiterkamen: Wir sind überzeugte Demokraten. Eine Welt ohne Wahlen und mit Anarchie können wir uns trotz aller Sympathien für Tobis Weltverbesserungsideen nicht vorstellen.

Anders ist es mit den konkreten Veränderungen, die er in seinem Alltag umsetzt. Wir taten uns zu Beginn unseres Besuchs bei Tobi schwer damit, in seine Utopie hineinzufinden, weil uns an vielen Stellen Widersprüche auffielen oder uns die Ideen, wie er sein Leben umgekrempelt hat, zu radikal vorkamen. Das ist eine fast schon reflexhafte Ablehnung, die wahrscheinlich bei vielen Menschen auftritt, die sich zum ersten Mal mit einem Utopisten unterhalten. Aber auch wenn man Tobis Ideen nicht oder nicht komplett folgt, bieten sie einen interessanten Perspektivwechsel. Ist es wirklich notwendig, dass jeder Deutsche etwa 100 Kleidungsstücke besitzt? Dass so viele Lebensmittel in der Mülltonne landen? Kann es auf Dauer gut tun, dass es uns in Deutschland so gut geht, während andernorts Menschen, denen es viel schlechter geht, für uns Essen und Klamotten herstellen? Und wenn wir daran etwas ändern wollen, kommen wir dann mit netten kleinen Veränderungen wirklich weiter oder müssen wir vielleicht alle etwas mehr so werden wie Tobi?

Im Laufe unserer Recherche haben wir uns von ganz rechts nach ganz links bewegt. Angefangen haben wir auf einer Merkel-muss-weg-Demo in Berlin, jetzt sind wir über einen Abstecher nach Hamburg in Sachen G20 bei Tobis Utopie gegen Kapitalismus gelandet. Die Probleme, mit denen sich beide Gruppen beschäftigen sind dieselben. Die Schlüsse, die sie daraus ziehen, sehr unterschiedlich. Aber beiden Strömungen ist gemein, dass sie sich von der aktuellen Politik in Deutschland nicht repräsentiert fühlen und sich außerhalb des politischen Systems aufbäumen. Das könnte sich durch die Bundestagswahl ändern: Die Merkel-muss-weg-Demonstranten werden die AfD wählen, die vermutlich in den Bundestag einziehen wird. Sehr linke Menschen wie Tobi, aber auch zum Beispiel viele Flüchtlingshelfer tun sich in ihrer Wahlentscheidung sehr viel schwerer, falls sie denn überhaupt wählen gehen – weil es keine Parte gibt, bei der sie ihre linken Ideale verwirklicht sehen. Kürzlich gab es bei ZEIT Online zu diesem Thema auch einen sehr interessanten Bericht: Dort schilderte ein Flüchtlingshelfer, warum er seine Kandidatur für die LINKE zurückgezogen hat.

Wir haben übrigens auch noch mit einer zweiten Utopistin gesprochen: Ärztin Baukje Dobberstein hat uns in einem Interview erklärt, warum das Sozialsystem aus ihrer Sicht krank macht und sie für das Bedingungslose Grundeinkommen kämpft.

4. Was hätten wir besser machen können?

Bestimmt ganz viel! Schreibt uns eure Meinung einfach in die Kommentare oder auf Facebook, Snapchat (Name: Crowdspondent), Twitter, Instagram oder wo auch immer ihr im Netz Zuhause seid. Wir freuen uns über Kritik, Lob und Fragen zur Recherche. Besonders freuen wir uns über Leute, die uns auf Youtube abonnieren.

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  1. Pingback: Ärztin Baukje Dobberstein: „Das Sozialsystem macht krank!“ | crowdspondent

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