Strahlen-Experte zu Fukushima: „Der Begriff Atomkatastrophe ist unangebracht!“

Wie gefährlich ist es in Fukushima heute, fünf Jahre nach dem Reaktorunfall? Wir haben vor Ort recherchiert und unsere Recherchen mit Prof. Georg Steinhauser vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz Hannover besprochen. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Folgen des Unfalls. Ein Gespräch über Fukushima-Mythen, Strahlenwerte, verseuchte Lebensmittel und die Berichterstattung der deutschen Medien. 

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Herr Prof. Steinhauser, unser Eindruck war, dass viele Japaner sehr misstrauisch sind, wenn es um von der Regierung veröffentlichte Strahlenwerte und Risikoeinschätzungen geht. Ist dieses Misstrauen aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Prof. Georg Steinhauser

Prof. Georg Steinhauser

Ich kann der Regierung natürlich keinen Freibrief ausstellen, dass immer alles in Ordnung war. Die Transparenz war gerade unmittelbar nach dem Reaktorunfall mehr als mangelhaft. Aber seitdem sich Japan von seinem ersten Schockzustand erholt hat, laufen die Dekontaminierungsarbeiten aus meiner Sicht gut und die Regierung bewältigt das Problem aus wissenschaftlicher Sicht in einer technischen Qualität wie es kaum ein anderes Land hinkriegen würde. Die veröffentlichten Zahlen halte ich auch für korrekt.

Also existiert die Unsicherheit der Bevölkerung Ihrer Meinung nach eher aufgrund eines Kommunikationsproblems?

Direkt nach dem Unfall war die Kommunikation sicher schwierig. Aber Sie müssen auch sehen, dass Japan damals erst mal andere Probleme hatte als das Reaktorunglück 20 000 Japaner wurden tot ins Meer gespült, da kann zum Beispiel die europäische Presse nicht erwarten, dass sie direkt alle Infos zum Kernkraftwerk bekommt, noch dazu wo die japanische Regierung dringend nötige Informationen auch selbst erst mit Verzögerung bekommen hat. Da war erst mal anderes Krisenmanagement gefragt. Mich ärgert von daher auch häufig die Berichterstattung, gerade der deutschen Medien.

Inwiefern?

Alleine schon diese Namensgebung: Die Begriffe Atomkatastrophe und Desaster für dieses Ereignis zu verwenden finde ich unangebracht. Die eigentliche Katastrophe war das Erdbeben mit dem folgenden Tsunami, der 20 000 Menschen getötet hat. Die Gefahr durch den Reaktorunfall war da erst mal sekundär. Schlimm war für die betroffenen Menschen vor allem, dass sie ihr Zuhause verlassen mussten, als die entsprechenden Gebiete evakuiert wurden. Ich glaube, die sozialen Folgen wurden von den Medien unterschätzt, die gesundheitlichen Folgen überschätzt.

Offiziell gibt es keinen einzigen Strahlentoten durch Fukushima. Wie ist denn Ihre Einschätzung der gesundheitlichen Folgen für die japanische Bevölkerung?

Man muss da extrem vorsichtig sein. Es ist im Fall von Fukushima keine Prognose darüber zulässig, welche gesundheitlichen Schäden die Menschen durch den Reaktorunfall davontragen. Wenn man die Krebsstatistik betrachtet, ist es nach Ansicht vieler Experten unwahrscheinlich, dass Fukushima eine statistisch fassbare Erhöhung der Krebsfälle verursachen wird. Das liegt einfach daran, dass so viele Menschen auch ohne dieses Unglück an Krebs erkranken.

Das heißt: Da es sowieso so viele Krebsfälle gibt, werden wir gar nicht feststellen können, welchen Einfluss Fukushima darauf hat?

Ja. Wenn etwa 40 Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens an Krebs erkranken und 20-25 Prozent an Krebs sterben, bräuchte man schon sehr viele neue Krebsfälle, damit eine Erhöhung statistisch signifikant wird. Ich bin mir sicher, dass Fukushima Krebsfälle verursachen wird, aber eben wahrscheinlich so wenige, dass wir nicht nachweisen werden können, dass sie daher kommen. Aber wie gesagt: Diese Einschätzungen müssen immer mit Vorsicht betrachtet werden!

Wir haben aber im Netz auch Berichte von Ärzten aus Japan gefunden, die aus ihrer alltäglichen Praxis berichten, dass sie mehr Krebspatienten haben.

Nach solch einem Unglück gehen mehr Menschen zum Arzt als vorher, dementsprechend wird auch mehr gefunden. Das nennt man Screening Effekt. Die Berichte der Ärzte mögen zwar histologisch glaubwürdig sein, aber keiner dieser Berichte hat derzeit Beweiskraft. Es gab auch eine Studie in einem Fachmagazin zu diesem Thema. In der Studie wurden 110 Fälle von Krebspatienten aus Fukushima aufgelistet, innerhalb von zwei bis drei Jahren nach dem Reaktorunglück. Diese Zahlen sind unglaubwürdig. Denn aus Tschernobyl gibt es eine ähnliche Studie und dort war die Zahl der neuentdeckten Krebsfälle viel geringer, obwohl dort die Strahlenbelastung sehr viel höher war. Außerdem betrug nach Tschernobyl die Latenzzeit für Schilddrüsenkrebs vier Jahre und nicht nur zwei oder drei. Aus dem Grund gab es auch massive Kritik zahlreicher renommierter Gruppen, und sogar die renommierte Zeitschrift „Science“ hat besagte Studie in der Luft zerrissen. Aber die Gesundheitsüberwachung geht weiter und in fünf Jahren werden wir genau sagen können, ob die Schilddrüsenkrebsinzidenz tatsächlich statistisch signifikant angestiegen ist und damit auf den Reaktorunfall zurückzuführen ist. Seit Tschernobyl wissen wir, dass das Maximum der Krebsfälle zehn Jahre nach dem Unfall verzeichnet wurde. Vielleicht täuscht sich die Mehrheit der Strahlenschutz-Community ja – und ich mich mit ihnen.

Und was sind die tatsächlichen Risiken?

Grundsätzlich ist Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen nach Reaktorunfällen tatsächlich ein Risiko. Der Grund ist, dass es sich bei denen auch relativ leicht nachweisen lässt, weil Kinder ansonsten eine sehr niedrige Schilddrüsenkrebswahrscheinlichkeit haben. Dagegen kann man aber mit Jod vorbeugen, was in Japan auch gemacht wurde. Ironischerweise ist die Substanz, die die Krankheit auslöst, nämlich Iod-131 auch die Substanz, mit der man sie behandeln kann. Ansonsten gibt es natürlich noch andere unspezifische Krebsformen, die sind aber schwer nachweisbar und nicht so charakteristisch.

Wir waren für unsere Recherche in dem evakuierten Dorf Iitate unterwegs. Dort haben wir mit unserem Geigerzähler Strahlenwerte von durchschnittlich 0,78 Mikrosievert pro Stunde gemessen. Wir waren insgesamt etwas mehr als eine Stunde vor Ort und haben uns die Dekontaminierungsarbeiten angeschaut. Hinterher haben sich Leser bei uns gemeldet, die sich Sorgen machten, dass wir nun verstrahlt nach Deutschland zurückkehren würden – zu Recht?

Sie haben sich damit ganz sicher nicht Ihre Gesundheit ruiniert: Während des Flugs nach Japan erhält man eine Dosis von ca. 5 Mikrosievert pro Flugstunde, das habe ich selbst mal gemessen, weil es mich interessiert hat. Das heißt: Sie haben auf dem zehnstündigen Flug nach Japan wesentlich mehr Strahlung abbekommen als durch Ihre Recherche in der evakuierten Zone.

Ist das denn dieselbe Strahlung? Macht es keinen Unterschied, wo die Strahlen herkommen?

Es ist eine unterschiedliche Strahlung, aber hinsichtlich ihrer zellschädigenden Wirkung spielt es keine Rolle wie die Dosis zustande kommt. Für Ihre Gesundheit ist es demnach egal, ob die Strahlung kosmischen Ursprungs oder menschengemacht ist.

Und wenn wir uns jetzt länger dort aufgehalten hätten, also angenommen, wir wären die kompletten zehn Wochen der Recherche dort vor Ort geblieben?

Es gibt keine exakten Prognosen dazu, wie sich das auf Ihre Gesundheit ausgewirkt hätte, aber das wäre in jedem Fall über dem, was die ICRP, also die Internationale Strahlenschutzkommission empfiehlt. 0,78 Mikrosievert pro Stunde sind aufs Jahr gerechnet 6,8 Millisievert – und das ist dann deutlich über dem, was wir in Deutschland oder Mitteleuropa üblicherweise an Jahresdosis verzeichnen. Für die Allgemeinbevölkerung ist gemäß der ICRP-Richtlinien innerhalb eines Jahres nämlich nur eine maximale Jahresdosis von 1 Millisievert zusätzlich zur natürlichen Strahlenbelastung akzeptabel.

Nun ist es aber so, dass Iitate einer der Orte ist, die sozusagen rückbesiedelt werden. Momentan wird da noch die verseuchte Erde in Säcken abgetragen, ab 2017 sollen in dem jetzigen Geisterdorf dann aber wieder Menschen wohnen. In ein paar anderen Orten ist es ja bereits der Fall, dass die Menschen in evakuierte Gegenden zurückgekehrt sind. NGOs wie Greenpeace sehen das als riskant an. Was meinen Sie dazu?

Das ist aus meiner Sicht verantwortbar. Die Risiken wurden und werden sehr genau geprüft, die Werte sind stark gesunken. Anders ist es in sehr stark kontaminierten Orte wie zum Beispiel Futaba. Dort wird in den nächsten Jahrzehnten mit Sicherheit niemand leben können, da die Halbwertszeit des freigesetzten Cäsium-137 dreißig Jahre beträgt. Iitate liegt am äußeren Rand der Sperrzone und ist daher ein Sonderfall.

Greenpeace sagt aber: Die Radioaktivität sammelt sich in den umliegenden Wäldern von Iitate an, die ja nicht gereinigt werden. Dadurch könnte der Ort bei Regengüssen immer wieder neu dekontaminiert werden.

Also ich finde es ist eine Gemeinheit, dass man versucht, die Anstrengungen der Japaner so schlecht zu machen. Es ist schlicht und einfach nicht möglich, den Wald komplett zu reinigen. Wie soll man das machen? Wie soll man mit dem Bagger dort hineinfahren und die oberste Schicht abtragen?

Aber sollten dann dort Menschen leben, wenn das nicht gemacht werden kann?

Das Szenario, dass Radioaktivität aus dem Wald in einem solchen Ausmaß woanders hinwandern, halte ich für an den Haaren herbeigezogen. Wenn das so einfach ginge, würde der Wald sich ja von selbst reinigen. Der Wald ist ein Reservoir für Radionuklide: Die Pilzkulturen halten zum Beispiel Cäsium an der Oberfläche. Eine gewisse Verfrachtung kann stattfinden, das stimmt, aber das von Greenpeace skizzierte Szenario halte ich für sehr unrealistisch. Der Mythos, dass ein Mensch durch seine bloße Anwesenheit an einem Ort mit leicht erhöhter Strahlung schwer krank wird, ist sowieso so nicht zu halten. Die externe Bestrahlung und die Inhalation sind nur für einen kurzen Zeitraum nach einem solchen Unglück relevant. Das viel höhere Risiko auf Dauer sind die Lebensmittel.

Mit Lebensmitteln haben wir uns auch beschäftigt. Da Fukushima eine sehr ländliche Präfektur ist und viele Menschen in der Landwirtschaft arbeiten ist es ein riesiges Problem für viele Bauern, dass kaum jemand ihr Fleisch und Gemüse essen will. Wir waren selbst auch etwas unsicher: Kann man das Essen aus zum Beispiel Aizu Wakamatsu bedenkenlos essen?

Ja, kann man. Die Lebensmittel werden extrem streng kontrolliert.

Alle oder stichprobenartig?

Sehr gute Frage! Bei verderblichen Lebensmitteln kann man nicht alles kontrollieren, sonst verdirbt es schneller als man messen kann. Aber bei zum Beispiel Reis wird wirklich jeder einzelne Sack Reis überprüft. Das sind im Jahr über 10 Millionen Reissäcke! Raten Sie mal, wie viele Prozent davon im Jahr 2012 über dem Grenzwert waren.

Öhh, vielleicht 2500 Säcke?

Im Jahr 2012 waren es 71 Säcke, 2013 dann 28 Säcke und seit 2014 kein einziger mehr.

Und der Reis wird inzwischen auch wieder nach Deutschland exportiert, richtig?

Ja und da spricht auch überhaupt nichts dagegen!

Wie läuft die Überprüfung genau ab?

Die Gammastrahlen zu untersuchen ist bei vielen Lebensmitteln relativ unkompliziert: Man presst das Objekt in einen Plastikcontainer, legt es auf einen Detektor und dann wird wenige Minuten bis eine halbe Stunde lang gemessen. So bekommt man die Gammastrahlen heraus, also Cäsium-134, Cäsium-137 und in der frühen Phase nach dem Unfall auch die kurzlebigen Radionuklide wie Jod-131, die aber mittlerweile schon zerfallen sind. Andere Stoffe, die keine Gammastrahlung emittieren, sind viel schwieriger zu messen. Strontium-90 ist so ein Fall. Da haben sich die Japaner dann aus praktischen Gründen dazu entschlossen ein konstantes Verhältnis zwischen Cäsium-137 und Strontium-90 anzunehmen. Diese Lösung ist allerdings nicht ganz unkritisch. Ich habe in einer Studie gezeigt, dass das Verhältnis der Stoffe sich im Laufe der Zeit verändert, was dazu führen kann, dass man den Strontium-90-Gehalt unterschätzt. Die Studie hat für großes Aufsehen gesorgt.

Wurde denn dann nach Ihrer Studie diese Annahme korrigiert?

Ich denke, das wird umgesetzt. Die Japaner sind zu „deutsch“, um so etwas nicht umzusetzen. Als Österreicher sei mir dieser Kommentar gestattet! Insgesamt funktioniert das Messen mittlerweile in allen Bereichen hervorragend, mit einer Ausnahme: Rindfleisch. Es dauert eine Weile bis ein Rind eine ausreichende Menge Cäsium über das Gras aufnimmt und bis dieses Cäsium dann wiederum in den Muskel gelangt. Von einem Grashalm wird ja nicht gleich die ganze Kuh radioaktiv. Leider haben die Japaner den richtigen Zeitpunkt verpasst, zu dem mit dem Messen begonnen werden sollte. Deshalb waren dann gleich die ersten Proben erhöht und sie mussten mit einem unglaublichen Aufwand 80 000 Rindfleischmessungen innerhalb eines Jahres durchführen.

Zum Schluss möchten wir Sie noch zu ein paar Mythen befragen, die so durch das Internet schwirren und wo wir nicht genau wissen, was wir davon halten sollen. Was halten Sie zum Beispiel von Meldungen über mutierte Gänseblümchen?

Wenn es eine saubere wissenschaftliche Studie dazu gäbe und dieses Gänseblümchen auf einem Hotspot wohnen würde, würde ich daran glauben und fände das wissenschaftlich außerordentlich interessant. Aber nur weil jemand in Japan ein lustiges Gänseblümchen findet, muss das noch lange nichts mit Fukushima zu tun haben. Ich habe als Kind mal ein fünfblättriges Kleeblatt gefunden, ich glaube nicht, dass das an Tschernobyl lag! Pflanzen sind generell viel resistenter als Menschen und Tiere, weil sie viel einfacher aufgebaut sind.

Und wie sieht es mit toten oder mutierten Fischen aus?

Manche Internetblogs behaupten, dass tonnenweise tote Fische in Hokkaido an den Strand gespült werden, was wohlgemerkt ganz im Norden von Japan liegt. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn der Mensch aus dem Ökosystem herausgeht, geht es Fischen sehr schnell sehr viel besser als vor dem Reaktorunglück. In betroffenen Gebieten leben mangels Befischung deshalb mehr Fische als früher.

Und ist es wahr, dass radioaktive Strahlung für Kinder viel gefährlicher ist als für Erwachsene?

Absolut! Strahlenschäden manifestieren sich erst bei der Zellteilung und bei Kindern teilen sich die Zellen, anders als bei alten Leuten, noch sehr oft.

Dann soll angeblich der Pazifik durch Fukushima bis an die US-amerikanische Küste verseucht sein. Stimmt das Ihrer Meinung nach?

Es stimmt, dass sich das Cäsium ausgebreitet hat, bis an die US-Küste. Aber das ist eher ein Beweis dafür, wie gut wir Strahlung inzwischen nachweisen können. Die Ostsee ist zum Beispiel bis heute durch Tschernobyl wesentlich radioaktiver als der Pazifik. Außerdem wurden im Pazifik in den 1940er bis 1960er Jahren massenweise Atomtests durchgeführt, die sich viel viel stärker auswirken als Fukushima. Rund 95 Prozent der Radioaktivität war vorher schon im Pazifik.

Letzte Frage: Haben Sie selbst eine Meinung zur Nutzung von Atomkraft? 

Für mich als Österreicher ist das persönlich kein besonders relevantes Thema – weil Österreich auf Atomkraft verzichtet, da das Land mit Bergen und Wasserkraft gesegnet ist. Allerdings frage ich mich schon, wie Deutschland es schaffen soll seine CO2-Werte zu reduzieren, wenn wir als erste Maßnahme eine praktisch CO2-freie Hochleistungsstromquelle vom Netz nehmen. Der Klimawandel ist ein gigantisches Problem und ich bin mir nicht sicher, ob nachfolgende Generationen uns nicht deshalb noch für verrückt erklären werden. Aber ich bin Wissenschaftler, kein Politiker und bin dementsprechend weder Verfechter noch Gegner. Ich glaube daran, dass wir einen vernünftigen Energiemix brauchen.

Wie ihr vermutlich bemerkt habt, sieht Prof. Steinhauser einige Dinge anders als Greenpeace. Wie Greenpeace-Aktivistin Corinna Deppe-Burghardt die Situation einschätzt, könnt ihr hier nachlesen.

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