„Ich habe in Deutschland auch einige Halunken kennengelernt“ Ein Brasilianer erzählt.

Rapha de Haro Junior (64) wohnt in einem Haus in Rios Kneipenviertel Lapa. Die blaue Eingangstür erinnert uns ein bisschen an den Film „Notting Hill“. Er begrüßt uns in seiner sehr kleinen Zweizimmerwohnung. Mit seinem dreibeinigen Gehstock geht er auf uns zu. Wenn er läuft ist er 90, wenn er erzählt 40 und wenn er lacht er ein fünfjähriger Professor.

Sein Sohn Rapha hat uns zu Rapha Junior geschickt: „Er hat seit 30 Jahren kein Deutsch mehr gesprochen und würde sich unglaublich freuen, sich mit euch unterhalten zu dürfen. Außerdem hat er eine Menge erlebt und viel zu erzählen.“ De Haro Junior war Kernforscher im deutschen Jülich, dann hatte er einen schlimmen Motorradunfall, der sein Leben veränderte. Wir haben uns lange mit ihm unterhalten. Die Highlights haben wir für euch zu einem Interview zusammengefasst.


Wir: Hallo Herr de Haro, schön Sie zu sehen.

Rapha de Hora: "Ich denke jeden Tag darüber nach, ob ich mich in den 70ern richtig entschieden habe"

Rapha de Hora: „Ich denke jeden Tag darüber nach, ob ich mich in den 70ern richtig entschieden habe“

De Haro Junior: Guten Tag. Bevor ich etwas sage, muss ich mich noch vorauseilend entschuldigen. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Sie zwischendrin mit Du anspreche. Ich habe die letzten Jahre fast nur in meinen Selbstgesprächen Deutsch gesprochen. Und mich selbst spreche ich in der Regel mit „Du“ an.

Wir: Kein Problem, das macht gar nichts. Sie können uns auch gerne duzen.

De Haro Junior: Nun, ich weiß, dass es in Deutschland die Höflichkeit gebietet, Sie zu sagen. In Brasilien nutzt man diese Anrede eigentlich gar nicht, man sagt immer „du“.  Wenn ich deutsch spreche, sage ich lieber „Sie“.

Wir: Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass Sie als Brasilianer Deutsch gelernt haben?

De Haro: Ich habe mich in das Klingen der Deutschen Sprache verliebt. Ich hatte damals Ende der 60er Jahre eine Freundin, die mir ein Gedicht mitgebracht hat, das Heinrich Heine in einem Buch erwähnt hat.

De Haro setzt sich gerade auf, so gut wie es mit seinem durch einen Unfall zerstörten Rückgrat eben möglich ist. Er räuspert sich und trägt völlig AUSWENDIG ein deutsches Gedicht vor.

De Haro:
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl? Dahin!
Dahin möcht’ ich mit dir,
O mein Geliebter, ziehn.

Als ich das Gedicht hörte, dachte ich: Diese Sprache ist so schön und du kannst so vieles damit ausdrücken, die musst du lernen. Dann habe ich angefangen, Deutsch-Kurse zu nehmen.

Wir: Wow. Dass Sie sich noch so gut daran erinnern können!

De Haro: Naja, ich finde mein Deutsch ist äußerst schlecht geworden. Ich hatte vor elf Jahren diesen Motorradunfall. Dabei habe ich einen Großteil meines Gedächtnis verloren und meine Deutschkenntnisse haben sehr gelitten. Auch wenn ich nach dem Aufwachen aus dem Koma erst einmal tagelang NUR Deutsch gesprochen habe. Die Menschen hier im brasilianischen Krankenhaus und meine Freunde konnten sich in der ersten Woche gar nicht mehr mit mir unterhalten, sie haben mich nicht mehr verstanden.

Wir: Ihr Sohn hat uns erzählt, dass Sie früher als Physiker in Deutschland gearbeitet haben.

De Haro: Ich habe zunächst als Physik-Doktorand in Sao Paulo gearbeitet. Dann kam eines Tages ein deutscher Professor und sagte: „Wer will mit mir nach Deutschland kommen? Ich brauche einen Mitarbeiter in Darmstadt.“ Niemand wollte mit, niemand wollte nach Deutschland – außer mir. Ich hab mich gefreut. Ich mag Deutschland.

Wir: Warum?

De Haro: Weil man auch mal etwas ernst nehmen darf. Die Menschen in Deutschland haben ein Ziel, wo sie mit ihrem Leben hin wollen. So war das bei mir auch, ich wollte unbedingt ein sehr guter Physiker sein. Hier in Brasilien sind die Leute fast schon zu locker. Aber zu den Brasilianern und den Deutschen allgemein muss ich sagen: Halunken gibt es hier und Halunken gibt es in Deutschland. Ich habe in Deutschland auch einige Halunken kennengelernt (er lacht).

Wir: Es gab bestimmt auch vieles, was Sie in Deutschland an Brasilien vermisst haben, oder?

De Haro: Für sicher. Ich mag es, dass man hier abends noch so lange draußen unterwegs sein kann, die Menschen in den Bars zusammensitzen. Das hat mir schon in Deutschland gefehlt. Ich habe aber ein paar gemütliche Eckkneipen gefunden, das ging.

Auf der Küchenablage liegt ein Langenscheidt-Wörterbuch. De Haro hat es extra herausgekramt, falls ihm ein Wort nicht einfällt. Es ist vergilbt. Wir schauen kurz in das Impressum. Das Buch ist aus dem Jahr 1968. Er benutzt es kein einziges Mal. Immer wieder entschuldigt er sich für seine aus seiner Sicht schlechten Deutschkenntnisse. „Früher konnte ich mich um einiges besser ausdrücken, heute bin ich nur noch dazu in der Lage, mit ihnen zu smalltalken.“ Totaler Quatsch natürlich, wir haben mehr als einmal das Gefühl, dass er sich besser auf Deutsch ausdrücken kann als wir.

Rapha de Horas Wörterbuch aus dem Jahr 1968

Rapha de Haros Wörterbuch aus dem Jahr 1968

 Wir: Hatten Sie viele Freunde in Deutschland?

De Haro: Ja, ich hatte einen deutschen Freundeskreis, es gab viele Menschen aus Lateinamerika und Nordamerika damals in Deutschland, aber ich wollte immer mit Deutschen zu tun haben. Mein immer noch bester Freund Wolfgang kommt aus Deutschland. Er ist wie ein Bruder für mich.

Er erzählt uns ein bisschen von seinem guten alten Freund Wolfgang, der heute ein bekannter Physik-Professor in Kiel ist. Seit seinem Unfall hat de Haro den Kontakt zu einigen Leuten aus Deutschland verloren. Von Wolfgang hat er das letzte Mal vor eineinhalb Jahren gehört.

De Haro: Mir hat es in Deutschland sehr gut gefallen, meiner Frau aber gar nicht. Sie wollte immer zurück nach Brasilien. Obwohl ich am Kernforschungszentrum Jülich eine der sehr begehrten Professorenstellen angeboten bekam. Dann musste ich mich entscheiden: Die Liebe zu Deutschland oder die Liebe zu meiner Frau.

Wir: Na, offensichtlich haben Sie sich dafür entschieden, wieder nach Brasilien zurückzugehen und sind deshalb jetzt mit uns hier in Rio, oder?

De Haro: Es war die schwerste Entscheidung meines Lebens, für sicher. Meine Ehe lief nicht gut. Ich dachte, die Rückkehr nach Brasilien ist die einzige Möglichkeit, sie zu retten. Deshalb habe ich die Professorenstelle abgelehnt und bin zurückgekehrt. Ein paar Monate danach hat meine Frau mich verlassen. Da war die Professorenstelle in Deutschland schon längst an jemand anderen vergeben.

Wir: Haben Sie darüber nachgedacht, ob die Entscheidung richtig war?

De Haro: Ich habe in den letzten dreißig Jahren jeden Tag darüber nachgedacht, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht nach Brasilien zurückgekehrt wäre. Immer. Wissen Sie, ich stand an einer Weggabelung und habe mich für einen Weg entschieden. Den Weg zurück. Es ist schade, dass man bei solchen lebensbestimmenden Entscheidungen nicht beide Wege ausprobieren kann.

De Haro erklärt uns mehrmals, dass er sich mehr als Deutscher als als Brasilianer sieht. Wie das passieren konnte, weiß er auch nicht. Wenn sein Sohn Raphael aus dem Nebenzimmer kommt, sagt dieser über seinen Vater auch jedes Mal: „Ich sag es ja, er ist mehr Deutscher als Brasilianer.“ Dann erinnert sich de Haro wieder an seinen besten Freund Wolfgang. Er hat Wolfgangs Emailadresse verloren, würde aber wahnsinnig gerne wieder Kontakt zu ihm haben. Wir schlagen ihm vor, dass wir Wolfgang kontaktieren, wenn wir zurück in Deutschland sind. Raphas Sohn erzählt uns, dass die Professorenstelle in Jülich seinem Vater (der damals in Physikerkreisen ohnehin sehr bekannt war) den Durchbruch als Physiker gebracht hätte. Durch die Rückkehr nach Brasilien hat er seine Chance auf eine noch größere Karriere vertan. Denn im damaligen Brasilien waren die Umstände für Physiker schlecht.

Wir dürfen auf de Horas rotem Sofa mit ihm quatschen.

Wir dürfen auf de Haros rotem Sofa mit ihm quatschen.

Wir: Wie war es, als Sie wieder zurück in Brasilien waren?

De Haro: Ich habe in Rio angefangen, am physikalischen Institut zu arbeiten. Aber die Forschungsbedingungen waren miserabel. Als erstes habe ich durchgesetzt, dass mein Institut Computer kauft. Wir waren die ersten, die in Brasilien Personal Computer hatten. Für die anderen war es neu, für mich war es so, dass ich endlich meine Arbeit weitermachen konnte. Allerdings begann kurz nach meiner Rückkehr nach Brasilien die Zeit der Militärdiktatur. Das war… puh, das war schwierig. Ich war dann ein paar Jahre in Portugal. Da habe ich auch Raphas Mutter kennengelernt und mit ihr ein paar Jahre gelebt, bevor wir uns getrennt haben. Guckt uns an, wechselt das Thema: Aber ich rede die ganze Zeit nur. Was machen Sie eigentlich in Brasilien?

Wir: Wir machen ein journalistisches Experiment, wo uns unsere Leser an Orte und zu Personen schicken. Unsere Leser wollten als erstes, dass wir etwas über Favelas recherchieren. Dabei haben wir Ihren Sohn Rapha kennengelernt. Der hat ja in einer Favela Freiwilligendienst gemacht.

De Haro: Ja, Rapha ist bei uns der Favela-Experte. (Er und sein Sohn, der mittlerweile neben ihm sitzt und kein Deutsch versteht, geben sich eine Art „High-Five“ mit den Fäusten) Ich war nur einmal in meinem Leben in einer Favela.

Wir: Ach echt? Was haben Sie da gemacht?

De Haro: Ja, das ist interessant. Ich war etwas leichtsinnig, damals. Denn früher waren die Favelas viel gefährlicher als jetzt, wo in vielen die Polizei alles kontrolliert. Ich bin trotzdem hingegangen, denn mir war in der Stadt mein Motorrad geklaut worden. Und ich liebte mein Motorrad. Irgendjemand hat mir erzählt: „Dein Motorrad habe ich in einer Favela gesehen.“ Da dachte ich: „Also, so geht es nicht“ und bin in die Favela gegangen, um den Dieb zur Rede zu stellen. Er war nicht zu Hause. Ich saß dann mit seiner Mutter in der Küche und habe gewartet. Als er nicht kam, habe ich in der Favela verkündet, dass derjenige, der mir mein Motorrad zurückbringt, einen großen Finderlohn kriegt. Und zack, ein Tag später stand das Motorrad vor meiner Tür.

Langsam wird de Haro müde. Das Sitzen ist sehr anstrengend für ihn. Der Motorradunfall hat nicht nur seine Kontakte nach Deutschland zerstört, sondern auch sein Rückgrat. Er trägt ein Korsett: „Ich kann nicht mehr aufrichtig sein“, sagt er. Alle paar Stunden muss er sich hinlegen. Doch er hofft immer noch darauf, irgendwann wieder richtig gehen und sitzen zu können.

Wir: Hat sich durch Ihren Unfall noch etwas verändert?

De Haro: Alles. Ich verlasse das Haus nicht mehr oft. Ich fühle mich anders als früher. Ich kann so vieles nicht mehr. Ich wollte gerne weiter als Kernphysiker arbeiten. Aber mein Arbeitgeber hat mich frühzeitig pensioniert wegen meiner Gebrechen und meiner schlechten Gedächtnisleistung.

Wir: Und dann?

De Haro: Dann bin ich einen anderen Weg gegangen und bin Psychoanalytiker geworden. Ich hatte eine kleine Praxis, ein paar Straßen weiter. Dort kamen die Menschen zu mir und ich konnte ihnen helfen. Es war etwas ganz anderes als die Arbeit als Physiker. Aber genauso schön. Ich habe sehr viel Nietzsche und Freud studiert.

Wir treffen in Brasilien ständig Leute, die nebenher als Psychoanalytiker arbeiten. Zum Beispiel unsere Vermieterin. In jedem Mittelklasse-Haushalt steht mindestens ein Freud-Werk im Schrank. Wir werden auch ständig nach Freud gefragt, ob er in Deutschland auch so wichtig ist und ob wir Psychoanalyse machen. Heute arbeitet de Haro nicht mehr. Die Praxis hat er verkauft.

Wir: Sie haben ja so früh einen Computer gekauft. Was halten sie vom Internet?

De Haro: Das Internet ist toll. Ich kann in meinem Zimmer in die ganze Welt gehen. Ich könnte mich ein Jahr einsperren und nur im Internet unterwegs sein. Mein Lieblingsseite ist die vom CERN in der Schweiz. Ich bin zwar heute mehr Psychoanalytiker als Physiker, aber was die Leute da erforschen, interessiert mich immer noch sehr.

Wir: Als sie in Deutschland waren, war dort ja einiges los in der Studentenszene. Haben Sie etwas von den Protesten den 70ern mitbekommen?

De Haro: Ich habe damals nicht demonstriert – ich musste ja ein guter Student sein. Aber natürlich, ich habe mitbekommen, dass viel mehr Polizisten in Darmstadt waren, als die Sache mit der RAF losging. Ein Mal war sogar die Autobahn zwischen Darmstadt und Frankfurt gesperrt. Es hat mich erstaunt, dass so etwas in Deutschland möglich ist. Man merkte, dass etwas anders war, die Stimmung war gekippt. Aber das dauerte nicht lang, nur drei Jahre. Kein Vergleich zur Militärdiktatur in Brasilien, in der ich danach gelebt habe.

Rapha de Haro kann nicht mehr richtig sitzen. Wir sehen ihm an, dass er Schmerzen hat und sagen ihm, dass er sich ausruhen soll. Wir wollen ein anderes Mal wiederkommen. Vielleicht kann er uns dann mehr von der Militärdiktatur in Brasilien erzählen.

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