„Alles ist falsch“

Das Gebäude, dessen Türklingel wir drücken, sieht aus wie ein Palast. Drei Pförtner wollen wissen, wen wir besuchen. Es ist halb neun, Mittwochabend in Rio de Janeiro. Unsere Leserin Eva hat uns hierher geschickt, zu Marcela, die sie beim Caipoeira-Training kennengelernt hat. Marcela  ist eine der Frauen, die in Rio die brasilianische Revolution vorantreiben will. Wir treffen sie und ihre Freundin Isabel.

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Marcelas Wohnung wirkt wie aus einer Wohnzeitschrift für die obere Mittelschicht. Whirlpool auf der Dachterrasse, Wendeltreppe in den ersten Stock, durch das offene Fenster hören wir Klaviermusik. Hier soll die Revolution zu Hause sein? Das hatten wir uns anders vorgestellt. Doch Marcela und Isabel, die beiden jungen Frauen, die uns gegenübersitzen, erzählen uns, dass sie etwas verändern wollen. Dafür ziehen sie jede Woche mehrmals auf die Straße und aktivieren viele andere Menschen über Facebook dazu, dasselbe zu tun.

„Alles ist falsch“, sagen sie zu uns. Sie regen sich auf, über das schlechte Gesundheitssystem und die Polizeigewalt in den Favelas, den Gegenden ohne Asphalt, wie sie sie nennen. Sie selbst sind aufgewachsen in den besseren Gegenden von Rio, den Straßen mit Asphalt. Seit klar ist, dass die WM nach Brasilien kommt, wird immer offensichtlicher, dass insbesondere das Verkehrs- und Gesundheitssystem nicht darauf ausgelegt ist, eine große Menge an Menschen – und eben nicht nur die Reichen – gut zu versorgen, erklären sie. Wie wir waren auch sie am Sonntag auf einer der großen Demonstrationen vor dem Confed-Cup-Finale.

Außerdem beschweren sie sich wie viele Brasilianer über die vielen Vorschriften der Fifa und das viele Geld, das ihre Regierung für den Bau von Stadien ausgibt oder das irgendwo versickert. Geld, das in Krankenhäusern und Schulen viel dringender gebraucht würde. Die Gewalt auf den Straßen, für sie geht sie vor allem von der Polizei aus. Seitdem schwer bewaffnete Polizisten auf Demonstrationen Tränengas versprühen und Gummigeschosse abfeuern, diskutieren die Menschen darüber, wie man die Polizei entmilitarisieren kann. „Dabei passiert dieselbe Gewalt jeden Tag in den Favelas, wo die Menschen weder Essen noch Toiletten haben“ sagt Isabel.

Bisher hat es in Brasilien keine Demonstrationskultur gegeben, erzählen sie. Bisher haben viele weggeschaut oder nicht gewusst, was zum Beispiel mit dem indigenen Volk passiert ist, das neben dem für viel Geld umgebauten Maracanâ-Stadion lebte. Bald kommen da Parkplätze für die WM hin. Die Menschen wurden vertrieben, erst jetzt kriegt die Mittelschicht über Kanäle wie Youtube etwas von diesen Vorgängen mit, die wir uns in der nächsten Zeit noch genauer anschauen wollen. „Das hier ist eine Revolution der Wahrnehmung“, glaubt Marcela.

Vor allem seit dem vergangen Jahr diskutieren Studenten und Professoren an den Unis über die Probleme im Land, beobachten Expertengruppen die Rechtsprechung und das teilweise brutale Vorgehen der Polizei in den Favelas. Es hat schon länger gebrodelt, so plötzlich wie es scheint, sind die Proteste nicht entstanden, so die Frauen. Kleine, bisher kaum bekannte Gruppen, mit denen wir uns noch treffen wollen, treiben die Aktionen voran. Im Moment sind viele Menschen bereit, für ihre Ansichten auf die Straße zu gehen. „Jetzt müssen wir die Welle nutzen“, sagt Marcela.

Heute, am Donnerstag, nehmen die beiden uns mit zu „Occupy Cabral“, einer Protestaktion im Stadtteil Leblon. In den nächsten Tagen wollen wir einige der Gruppen treffen, die sich für ein demokratischeres Brasilien einsetzen. Was sind das für Menschen, was sind ihre Motive und Hintergründe? Ändert sich wirklich etwas oder wird nur viel darüber geredet, was verändert werden könnte? Und wie sehr stimmen die Interessen der Mittelschicht wirklich mit denen der Menschen aus den ärmeren Gebieten überein? Fragen, die wir uns und den Leuten, die wir treffen, stellen.

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